Im Zentrum von Varanasi verlassen wir unsere Rikschas, da an dieser Kreuzung die Rikschafahrer nicht weiter dürfen. Was danach kommt, ist zwar keine Fußgängerzone, aber doch eben Rikscha-frei. An der Kreuzung ist ein kleiner Polizeiposten und es stehen auch immer Polizisten dort rum, die mit ihren Bambusstöcken nicht gerade zimperlich „regelnd eingreifen“ – für mich intern taufe ich den Platz als „Kreuzung, an der die Rikschafahrer verprügelt werden„.
In der Yogi-Lodge untergebracht verbringen wir eine Woche mit dem Besuch an den Ghats, in einem Sitar- Konzert, einem Ausflug nach Sarnath und zur Universität Benares. An Mahashivarati, dem hinduistischen Feiertag zur Hochzeit Shivas mit seiner Göttin Parvati… ist unser letzter Abend gekommen. Die Rucksäcke stehen schon gepackt und wir treiben uns in der Stadt rum.
Varanasi ist noch einmal um mehrere Hundertausend Pilger angeschwollen. Durch die engen Gassen tanzen und toben hunderte junge Männer barfuß in Gruppen, rufen und werfen mit Reis. Die Hauptstraße ist voller Menschen, ein Gedränge und Gewühle. Mehrere Bühnen sind aufgebaut, mit viel buntem Licht, glänzenden Seidenstoffen und ohrenbetäubenden Gesängen und Gebeten. Die Techniker kennen an den Verstärkern nur zwei Schalt-Stellungen: Aus oder Max.
An einer der Bühnen treffe ich einen Händler, der mir vor zwei Tagen ein neues rotes Shirt verkauft hat, welches mich den ganzen Rest dieser Reise begleiten sollte. Oder besser – er trifft mich. Ich hätte ihn in der Masse nicht erkannt. Aber viele Inder haben ein gutes Personengedächtnis. Und sie legen wert auf gute, höfliche Beziehungen. Da ich ein kurzärmliges Shirt wollte, mußten erst noch die Ärmel abgeschnitten und umgesäumt werden. Kein Problem, ein Schneider saß gleich nebenan. Um die kleine Wartezeit zu überbrücken, wurde ein Angestellter losgeschickt zum nächsten Tschai – Verkäufer und für uns ein Tee gebracht. Jetzt ist der Händler offensichtlich mit einem Verein hier an der Bühne und sie tragen zur Unterhaltung Varanasi’s am Mahashivarati – Abend bei. Wir werden in der Runde kurz vorgestellt und freundlich begrüßt. Nach einem kleinen Schwatz gehen wir weiter.
Vor einem Lokal oder Club ist ein wilder Tanz zu lauter Musik im Gange. Offenbar wird hier aus großen Kesseln Bang-Lassi ausgeschenkt. Schon mehrfach haben wir gehört, daß zu Mahashivarati das Drogenverbot nicht so streng gehandhabt wird und der Verkauf – oder wie hier das Verschenken – von Bang-Lassi erlaubt sei. Schnell bekommen wir jeder ein Glas vollgeschenkt und werden wir in den größer werdenden Kreis der Tänzer mit einbezogen. Die Rhythmen werden schneller und heißer…
Nach einer halben Stunde ist aber das „Frei-Lassi“ alle und die Tische werden abgebaut. Die enge Meute der Tanzenden löst sich auf. Ich greife mir routinemäßig an die rechte Hosentasche – und bekomme einen Riesenschreck. Der Paß ist weg.
Normalerweise ist der in einer relativ gut verschlossenen, sicheren Tasche, wo auch ein paar größere Geldscheine verstaut sind. Allerdings habe ich da vorhin was rausgenommen und den Paß dann in die Beintasche gesteckt, die nur mit Klettverschlüssen gesichert ist. Und da muß er bei dem wilden Rumgehopse rausgefallen sein…. Oder geklaut? Naja, meine Dummheit muß ich jetzt nicht auf andere schieben…
Ich sage zu Peter „Das ist der Ernstfall – mein Paß ist weg!“ Wir schauen uns noch ein wenig um, vielleicht liegt er ja hier irgendwo im Staub der lehmigen Straße. Aber keine Spur. Da ich nicht ganz sicher bin, wo ich ihn nun tatsächlich verloren habe, gehen wir langsam zu der Bühne zurück, wo wir vorhin den Händler getroffen haben. Dort werden wir gleich wiedererkannt und angesprochen. Auf der Bühne steht ein Redner und hält irgendwelche endlosen Monologe in Hindi, natürlich ebenso ohrenbetäubend wie ansonsten die Musik.
Wir erzählen einigen der Bühnensteller, daß ich meinen Paß verloren habe und wir hier suchen, ob er vielleicht irgendwo liegt. Und wo wir vermuten, daß ich ihn verloren habe und so weiter. Noch während wir erzählen, wird die Traube um uns immer größer und größer, letztlich stehen mindestens 200 Leute um uns herum. Ich höre so nebenbei, daß sich die Reden auf der Bühne inzwischen vor allem um einen „…german passport“ drehen und bei der Lautstärke bestimmt alle 10.000 Inder in dieser Straße schon mitbekommen haben, was mir widerfahren ist.
Mich bewegt eine eigenartige Gefühlsmischung. Einerseits bin ich froh, daß jetzt wohl 20.000 Augen sich umschauen und nicht nur uns anstarren, sondern nach einem roten Paß suchen. Andererseits ist mir schon ein wenig peinlich, wegen des Maleurs im Zentrum zu stehen und von immer mehr Menschen angestarrt zu werden. (O.k., als Weißer angestarrt zu werden ist in Indien normal, daran habe ich mich einigermaßen gewöhnt).
Nach einigen Minuten tauchen ein paar Kinder auf und sprechen unser Gegenüber an. Die haben irgendwas bemerkt oder gesehen! Wir werden mit den Kindern mitgeschickt, die Straße runter zu gehen. Dort ist dann die Polizeistation, an der bewußten Kreuzung mit den Rikschafahrern, und die Kinder führen uns geradewegs dahin. Die Szenerie hat sich allerdings geändert. Die Kreuzung ist gesperrt, vor dem Polizeiposten ist eine Tribüne aufgebaut. Später soll ein Umzug an dieser Bühne entlang ziehen – der offizielle Festakt von Varanasi zu Mahashivarati.
Jetzt sprechen erstmal die Kinder einen Polizisten an und zeigen auf mich. Ein stämmiger Polizist in Zivil kommt auf mich zu und befragt mich zu dem Vorfall. Ich erzähle nochmal, daß ich den Paß verloren habe. Was dann folgt, kann ich mir bis heute nicht so recht erklären. Vielleicht ein wenig Show über die „intensive Polizeiarbeit“? Jedenfalls läßt sich der Zivil-Polizist einen dicken Knüppel geben und biegt wieder in die Straße ein, aus der wir gekommen sind. Die Kinder vornweg und wir traben hinterher. Nebenbei scheucht der Polizist mit seinem Knüppel demonstrativ mal eine Gruppe von Jugendlichen auf – keine Ahnung, aus welchem Grund. Aber wir laufen wieder zurück zur Bühne, an der wir bereits bekannt sind. Es kommen auch sofort ein oder zwei der Verantwortlichen auf uns zu und sprechen mit dem Polizisten. Für uns kein Wort der Erklärung.
Nach zehn Minuten geht es retour zur Polizeistation. Irgendwann auf halbem Wege erklärt der Polizist mir „Your pass is secure„. Keine Ahnung, wie er da jetzt drauf kommt. Er hat keinen Funk oder irgendwas, wie er irgendwoher eine Info bekommen haben könnte. Nun ja, wir trotten hinterher, an der Polizeistation heißt es „Wait“ und wir stehen zwischen Bühne und dem Häuschen. Peter sagt zu mir, „wir kommen heute sowieso nicht mehr weg aus Varanasi. Ich gehe jetzt mal zur Yogilodge zurück und mache unser Zimmer für die nächste Nacht klar.“ Das ist wohl besser so, den Nachtzug schaffen wir eh nicht mehr.
Mittlerweile haben auf der Bühne vor mir einige offenbar hochrangige Autoritäten der Stadt Varanasi platzgenommen. Neben vornehm gekleideten Damen und Herren sind auch zwei Uniformträger dabei, deren Sterne auf den breiten Schulterklappen funkeln. Und jetzt beginnt der nächtliche Umzug zu Mahashivarati. Bunt angezogene Gruppen von Männern und Frauen kommen mit Wagen, auf denen große Leuchtpyramiden mit dutzenden Glühbirnen stehen. Weitere Leuchtornamente werden getragen. Alle sind sozusagen verkabelt und auf den Wagen stehen Notstromaggregate, um die ganze Lichterpracht am Leuchten und Funkeln zu halten. Zwischendurch kommen auch immer wieder mal bunt bemalte Elefanten, teils mit Reitern und Sänften, teils als „Zugpferde“ für weitere Wagen. Einige Wagen sehen aus wie rollende Tempel. Ich stehe hinter der Tribüne, vor der Polizeistation, schaue mir den Umzug an und warte. Niemand kümmert sich mehr um mich. Mein Problem scheint keine große Priorität zu genießen gegenüber dem prachtvollen Umzug.
Peter kommt aus der Yogilodge zurück. Kein Zimmer mehr frei, alles belegt. Doch wir dürfen im Chef-Büro schlafen. Die allgemeine Meinung von den Managern der Yogilodge ist aber – ‚den Paß kannst Du vergessen, den siehst Du nicht wieder‚. Naja, ich habe auch schon daran gedacht, was jetzt folgt – irgendwelche Verlustprotokolle der Polizei besorgen, nach Delhi durchschlagen ohne Paß, zur Botschaft gehen und Ersatz beantragen, warten, Immigration office aufsuchen wegen Visa-Ersatz…. Das kann alles dauern und wird bestimmt kein vergnügliches Erlebnis. Und unsere sonstigen Reisepläne können wir wohl auch knicken..
Plötzlich sehe ich, daß einer der beiden Uniformierten mit dem vielen Lametta auf der Bühne sich umdreht und mich anschaut. In der Hand hat er – einen roten Reisepaß. Er winkt mich heran und fragt mich, anfangs mit strenger, ernster Miene, nach dem Namen und weiteren Personenangaben. Aber ich sehe schon, daß er immer mehr anfängt zu grinsen. Und letztlich drückt er mir meinen Paß wieder in die Hand. Nach knapp vier Stunden habe ich den Paß zurück. Der war wohl gleich nach meinem Verlust bei der Polizei abgegeben worden und aufgrund irgendeiner Dienstvorschrift zu einer Asservatenkammer weit draußen am Rande von Varanasi befördert worden. Dann hat es vor allem wegen des Feiertagstrubels so lange gedauert, den wieder von dort abzuholen.
Natürlich haben die Kinder, die uns als Erste auf die richtige Spur gebracht haben, von mir eine Belohnung bekommen. Sie sind richtig stolz, daß sie uns helfen konnten. Dem Zivilpolizist, der sich der Problematik angenommen hat, wollte ich eigentlich ein Essen spendieren (wir sind sowieso gleich Essen gegangen nach der ganzen Hektik). Aber der hat abgelehnt. Auch die Cola, die ich ihm mitgebracht habe, wollte er nicht annehmen. Keine Ahnung, ob das daran lag, da dieser Lamettaträger vor uns auf der Bühne saß oder ob er auch so ein prinzipienfestes Vorbild der Antikorruption abgeben wollte, mehr als ein Dankeswort hat er nicht akzeptiert.
In der Yogilodge wurden wir mit „Hallo“ begrüßt. Die Manager waren ziemlich erstaunt über den glücklichen Ausgang dieser Geschichte. Und wir waren natürlich ebenso froh, daß wir unseren Weg aus Varanasi mit nur einem Tag Verspätung in Richtung Khajuraho fortsetzen konnten.
Hui, da bist du aber glimpflich davongekommen! Jedenfalls eine ganz schön spannende Geschichte! Ein Passverlust (bisher mir noch nie passiert, zum Glück) ist ein absoluter Horror, besonders, wenn man in der Reiseplanung eigentlich absolut nicht flexibel ist. Gut, dass alles gut ausgegangen ist :)!
Liebe Grüße
Tante Reisefieber