Radeln von Reims zum Mont Saint Michel

Per Fahrrad durch Frankreichs Norden – Teil 2

Die Nacht am Feldrand bei Berry-au-Bac verläuft ruhig und angenehm. Es ist warm, Sterne stehen über mir und nur wenige Geräusche durchdringen die klare Juni- Nacht. Erst am Morgen, die Sonne ist bereits zeitig im Osten über dem Kanal aufgestiegen, höre ich das Brummen eines Schiffs. Aber das sind nur zwei Hausboote, die ich am Abend zuvor schon bei Berry-au-Bac am Ufer liegen sah und die ihren Weg in Richtung Reims fortsetzen. Am Ortsrand geht jetzt auch die Mühle in Betrieb, durch ein weiteres Brummen in höherer Tonlage wahrnehmbar.

(Fortsetzung von Longwy – Reims per Rad)

flag UK icon

Ich packe meinen Kram in die Fahrradtaschen und schiebe das Rad über die Uferböschung. Dann nutze ich den sonnigen Platz gleich noch für mein Frühstück, welches wie üblich aus Baguette mit Honig oder „Wagenschmiere“ besteht. Das bringt den nötigen Energieschub für die morgendliche Etappe.

Während meines Frühstücks kommen zweimal Autos auf dem Radweg vorbei. Beides sind Dienstfahrzeuge der „VNF„, der französischen Wasserstraßen – Behörde. Näher am Ort hat inzwischen auch ein VNF – Mitarbeiter begonnen, mit seinem Rasentraktor den eigentlich schon recht kurzen Böschungsrasen noch kürzer zu mähen. Alles in allem aber scheint die Arbeit bei der VNF auch ein angenehmer Job zu sein, an vielen grünen Flußufern und einsamen Schleusen mit wenig Verkehr….

So richtig satt starte ich nun auf dem Weg am Canal de l’Aisne westwärts, wo ich am Abend zuvor schon festgestellt hatte, daß dieser etwas anstrengend wird. Denn hier ist nicht einmal ein Pfad, nur gemähter Rasen als Untergrund. Naja, vielleicht ändert sich das nach ein paar Kilometern wieder. Mein eigentlicher track verläuft weiter nördlich der Aisne, aber ich habe keine Lust, den abwechslungsreichen Pfad neben dem Fluß gegen eine vermutlich eher langweilige Straße einzutauschen. Da nehme ich die Anstrengung schon mal eine Weile in Kauf.

Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: l'Aisne
l’Aisne

Der Fluß ist weniger sauber als der Kanal gestern. Viele Algen trüben das Wasser, auch der Bewuchs ist stärker. Nach einigen Kilometern kommt eine Eisenträgerbrücke, die schon einige Jahre auf dem Buckel hat. Die scheint tatsächlich mal für eine Eisenbahn gebaut worden zu sein, denn neben dem löchrigen Straßenbelag finden sich auch alte Bahnschienen in der Bettung. Doch ob jemals Züge darüber gefahren sind, ist fraglich – nichts deutet mehr auf eine Anbindung der hoch über dem flachen Land aufragenden Brücke.

Leider ist auch mein „Kanalbegleit-Weg“ erstmal zu Ende und ich muß weiter südlich auf einen Feldweg ausweichen. Dieser führt mit Kurven und vielen Löchern schließlich zu einer Straße, die den Kanal wieder kreuzt. Und ab da gibt es einen sandigen Weg dichter am Kanal. Noch in Sichtweite der Straßenbrücke entdecke ich einen kleinen Platz, von dem aus eine offene Böschung direkt bis an das Ufer der Aisne reicht. Da es ziemlich heiß geworden ist und ich auf den schlechten Wegen ganz schön ins Schwitzen geraten bin, nutze ich diese Gelegenheit gleich mal für ein Bad. Ein Stock, um mein Rad damit aufzustellen, findet sich schnell. Der war als Feuerholz für eine kleine Feuerstelle mit gesammelt worden. Jetzt dient er mir erstmal als Fahrradständer.

Nach dem erfrischenden Bad fahre ich auf dem huckligen Weg weiter. Das ist wohl eher kein offizieller Weg, nur die Angler nutzen ihn, um an die verschiedenen Angelplätze am Ufer des Flußes zu kommen. Aber wenigstens geht es weiter – bis er plötzlich im rechten Winkel vom Fluß weg nach Süden führt. Nun muß ich doch wieder auf die Straße.

Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: Soisson
Soissons

Mein erstes Ziel an diesem Tag ist Soissons. Das war vor Jahren der Startpunkt für die Bootstour durch Nordfrankreich. Allerdings habe ich die Stadt selbst nicht gesehen. Das Flußschiff lag außerhalb in der Nähe einer Schleuse und wir sind direkt dorthin gefahren. Nun wollte ich das „Versäumte“ nachholen und dieser Stadt einen Besuch abstatten. Über eine Aisne – Brücke gelange ich zwischen „Hotel de Ville“ und der Abbaye St. Legér ins Zentrum. Natürlich wiedermal auf der Suche nach einem „Dönerman“ für mein verspätetes Mittagessen. Doch das gestaltet sich schwierig. Es ist irgendwie seltsam – ob es an strengeren Corona-Maßnahmen oder eigenartigen Öffnungszeiten geschuldet ist? Jedenfalls haben einige Bierstuben und Eisverkäufer geöffnet und freuen sich über munteres Leben, aber die Imbiß-Läden sind geschlossen. So bleibt mir nur, von Joghurt und „Rucksack-food“ zu leben und die Stadt mit halbleerem Magen anzuschauen. Ob es daran liegt, daß Soissons mir nicht ganz so gefällt wie erwartet?

Radtour Frankreich: Kathedrale Soissons
Soissons Kathedrale

Meine Vorstellung war auch irgendwie von einer Stadt im Grünen geprägt mit dem Fluß und malerischen Ufern …. Stattdessen brütet der „Place de Hotel de Ville“ als steinstaubiger Parkplatz in der Nachmittagshitze. Und vielen anderen Straßen fehlt ebenfalls das Grün. Ja, schöne Häuser gibt es auch hier einige, und die Kathedrale von Soissons ist imposant. Imposant… doch irgendwie auch nur halbfertig. Jedenfalls wirkt sie so, mit 1 1/2 Turm. Und da ein Großteil eingerüstet ist und zu zwei Dritteln von Bauplatz und Baumaschinen umgeben, verstärkt sich dieser Eindruck noch. Auch das Aisne- Ufer scheint nicht richtig zur Stadt zu gehören. Das liegt „eine Etage tiefer“ und ist nur über befahrene Straßen zu erreichen. Der Uferweg, soweit es ihn gibt, scheint ein wenig verwahrlost und es lädt auch nichts zum Sitzen und Verweilen ein. Nach zwei, drei Runden im Zentrum von Soissons verdrücke ich mich auf eine schattige Bank in einer Grünanlage und lese dort ein wenig im eBook. Die Hitze ist erstmal zu groß, um zur Weiterfahrt zu motivieren.

Die Ausfallstraße aus Soissons heraus ist ziemlich befahren und kein Vergnügen. Doch bald kommen wieder kleine Landstraßen, hübsche Örtchen mit kleinen Schlößchen, erfrischender Wald und sommerliche Landschaften.

Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: Pierrefonds
Pierrefonds

Eine Überraschung ist die kleine Stadt Pierrefonds westlich von Soissons. Da war eigentlich nur eine kurze Durchfahrt geplant. Bei der Suche nach einem Morgenkaffee und ein paar Ergänzungen zur Verpflegung entdeckte ich dann aber ein beeindruckendes Schloß. Und davor einige Straßenzüge einer sehr schönen Ortschaft, zu der ein Abstecher lohnt. Eine Art Sommerfrische, mit Wanderwegen und Gondelteich. Nach Westen hin ist Pierrefonds von großen Waldgebieten, den Wäldern von Compiègne umgeben. Mitten darin gleich noch ein highlight – Saint Jean aux Bois. Eine Abtei mitten im Wald einschließlich einer kleinen Siedlung, ursprünglich wahrscheinlich Häuser von den „Zivilarbeitern“ des Klosters. Heute sind darin einige Herbergen und Restaurants untergebracht – nicht gerade günstige Angebote. Doch die Anlage läßt die Phantasie ins Mittelalter wandern, wo noch keine Touristen mit Autos und Motorrädern in die Gegend kamen. Da wird Saint Jean aux Bois wohl eine sehr versteckte Siedlung gewesen sein – fern von Ausschweifungen und Konsum, eine Oase der Kontemplation.

Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: St. Jean aux Bois
Saint Jean aux Bois
Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: Saint Jean aux Bois
Abbatiale de Saint Jean aux Bois
Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: Im Wald bei Compiégne
Im Wald bei Compiégne

Der Weg geht weiter westwärts durch den Wald von Compiégne. Dieser scheint riesig, zumindest im Vergleich zu allen Wäldern, die ich zuvor auf dieser Strecke durchquert habe. Ein geradliniges Wegesystem und weiße Wegesäulen, die an Grenzmarkierungen erinnern, deuten darauf hin, daß es sich um einen Staatswald oder einen ehemals „königlichen“ Wald handelt. Fast alles sind Kieswege, nur zum Schluß kommt noch ein Stück auf einer kleinen asphaltierten Straße.

Dann erreiche ich Lacroix-Sant-Ouen und damit die Oise. Auf der Suche nach einer Badestelle fahre ich die Uferstraße ein paar Kilometer nordwärts. Leider sind die Uferböschungen hinunter zum Fluß meist steil und abschüssig. An der einzigen Möglichkeit, die sich ergibt, kann ich nur über Granit-Blöcke hinuntersteigen. Eine Gruppe Jugendlicher kommt aus der anderen Richtung auf diesen Uferabschnitt zu. Sie grüßen mich freundlich beim Passieren und lagern ein paar Meter weiter. Alles Jungs, nur ein Mädel ist dabei. Das Bad in der Oise ist eine echte Erfrischung. Die Tage sind jetzt „knalleheiß“ und ich werde zunehmend brauner. Auf dem Fluß ist reger Schiffsverkehr. Das sorgt für ordentliche Schaukelei in den Wellen. Nach dem Bad ruhe ich mich noch eine Weile im Schatten einer einzelnstehenden Eiche aus. Die Jungs nebenan toben im Wasser herum, das Mädchen, sitzt etwas abseits. Und einer der Jungen, vermutlich ihr Freund, bleibt rücksichtsvoll und mit einem gewissen Stolz in der Haltung bei ihr.

Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: l'Oise
l’Oise

Um über den Fluß zu gelangen, muß ich eine schmale Autobrücke nutzen. Diese ist nur einseitig befahrbar. Eine Ampel regelt die Richtung. Mit dem Fahrrad bin ich etwas langsamer als die nachkommenden Autos, aber keiner hupt oder drängelt. Dann geht es noch ein Stück weiter die befahrene Straße entlang. Solche Nadelöhre sind immer etwas lästig. Zum Glück kommt bald der Abzweig und dann wird es wieder ruhiger.

Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: 44 Grad in Clermont
44°

Am nächsten Tag erreiche ich die Stadt Clermont. Auch da quäle ich mich mal wieder einen Berg hinauf. Das alte Zentrum der Stadt liegt tatsächlich auf einer Bergkuppe. Die Kirche Saint Samon sozusagen „toponthehill„. Das Rathaus „Hotel de Ville“ ein Stück unterhalb an einem Platz, von dem man abwärts in die Geschäftsstraße blickt. Wenn das nicht alles so anstrengend wäre, könnte das direkt schön sein! Nein, es ist schön. Das Thermometer über einem Optikerladen in Clermont zeigt +44°C an. (o.k., es hängt auch knallig in der Sonne).

Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: Clermont
Clermont
Radtour Frankreich - Mont-Saint-Michel: Wegweiser Paris - London in Clermont
Radweg nach London

Wegweiser verraten, ich befinde mich nun auf dem Radweg „Paris – London“. Tatsächlich kommen jetzt desöfteren mal Radfahrer vorbei. Allerdings keine Wanderradler mit Gepäck wie ich, sondern eher „Prachtfinken“ in bunten Radsport – Kostümen mit schmalbereiften Rennrädern. Einige erwidern meinen fröhlichen Gruß, viele aber schauen unbewegt geradeaus und nehmen mich gar nicht wahr.

Bei Boulincourt beschließe ich, heute eine ausgedehnte Mittagspause im schattigen Wald zu machen. Dafür lieber morgens in der Kühle schon eher loszufahren und dann abends nochmal ein paar Kilometer. Etwa 3 Stunden liege ich auf meiner Isomatte im Schatten einer Eiche. Mir läuft der Schweiß in Strömen. Als ich dann weiterfahre – auf selbstgesuchten Wegen durch den Wald etwas abseits meines tracks – entdecke ich, daß nur 1km weiter ein kleiner Waldteich zum Baden gelegen hätte. Vom Parkplatz schleppen sich Familien mit Plastikenten und Aufblas – Palminseln durch den Wald. Am Teich dröhnt bereits ein Popsender aus einer Box. Für die Ruhephase ist es sowieso zu spät…

Da der Wald nicht am Track liegt, schleppe ich mich über sandige Waldpfade hügelauf und hügelab. Ich hoffe, damit ein paar Kilometer abzukürzen und dann wieder auf meinen markierten Weg zu kommen. Die Pfade werden immer schmaler und plötzlich geht es auf einem Hügelrücken steil bergab. Hoffentlich gibt es da unten eine Fortsetzung. Diesen Anstieg komme ich nicht wieder rauf! Die Bremsen sind heiß, trotzdem rolle und rutsche ich die laubbedeckte Spur hinunter. Auf der anderen Seite geht es genauso steil wieder nach oben, aber zum Glück biegt auch nach links ein Pfad ab. Hufspuren sind zu sehen, offenbar wird dieser Weg bevorzugt von Reitern genutzt. Es geht im Bogen um den Hügel herum. Bald stoße ich auf eine splittbedeckte Straße. Und diese führt aus dem Wald heraus. Im nächsten Ort bin ich wieder auf meinem Track.

Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: Waldweg
Abseits vom Track

Gegen Abend zieht es sich zu und Regen kommt auf. Ich lagere an einer Bushaltestelle und suche meinen Laptop heraus. Beauvais ist nicht mehr weit. Per online – Suche buche ich mir ein Hotelzimmer in der Stadt. Seit Luxemburg das erste Mal wieder in einem Bett schlafen. .. und vor allem die Wäsche waschen. Garmin* führt mich zum Hotel, ich checke ein und beginne sofort mit der Wäsche. Hab ja nur eine Nacht zum Trocknen. Quer durch den Raum spanne ich meine Tarpleine und hänge alles auf. Die Klimaanlage hat einen Lüfter, den lasse ich laufen, um für einen genügend starken Luftstrom zu sorgen. Sonst wird das nichts mit dem Trocknen in dem kleinen Zimmer. Außerdem müssen alle Akkus geladen werden und ich kann mal wieder in Ruhe ohne allzuviel Zeitdruck ins Internet. Naja, die Nacht ist kurz, checkout ist Mittags, die Zeit wird doch knapp. Aber ich schaffe es, den schon weitgehend fertig geschriebenen Beitrag zur Vennbahn – Radtour zu posten, einschließlich der wichtigsten Bilder.

Am nächsten Tag steht der Stadtbesuch in Beauvais an. Ich war schon mal da, aber das ist 17 Jahre her. Erinnern kann ich mich nur noch an die Kathedrale – und die zeigt sich auch heute wieder beeindruckend. Ansonsten sind erstaunlich viele Häuser des Stadtzentrums von Beauvais jüngeren Datums. Das hätte ich so nicht erwartet. Wertvoll und historisch ist neben der Kathedrale der ehemalige Bischofspalast. Dieser Renaissance-Bau beherbergt das Musèe de ‚lOise, kurz le MUDO genannt. Darin sind Bilder von der Renaissance bis heute zu sehen, dazu mittelalterliche Skulpturen und Keramiken sowie eine Sammlung neuer Kunstwerke. Der Bischofspalast von Beauvais wurde ursprünglich bereits im 12. Jahrhundert erbaut und im 14. Jahrhundert mit zwei Eingangstürmen befestigt, da die Zeiten unruhig waren. Ein Umbau im Renaissance – Stil erfolgte im 16. Jahrhundert.

Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: Bischhofspalast Beauvais
Bischofspalast
Cathedrale St. Pierre de Beauvais
Cathedrale Saint Pierre de Beauvais
Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: Jeanne Hatchet - Denkmal in Beauvais
Jeanne Hatchet

Der Stadtbummel durch Beauvais geht noch am Rathaus vorbei über den Markt. Dort steht auch ein Denkmal für Jeanne Hachette. Das ist ihr „Kampfname“ – „Jeanne Kleine Axt“. Der Legende nach soll sie beim Einfall der Burgunder in die Stadt 1472 zusammen mit nur 300 Verteidigern gekämpft haben. Als einer der Burgunder Soldaten die Flagge des Sieges auf die Stadtmauern pflanzen wollte, stürzte sich Jeanne Fourquet mit einer Axt bewaffnet auf den Gegner, stieß ihn von der Mauer und riß die Fahne herunter. Damit gab sie den verdrossenen Verteidigern neuen Mut und die Stadt Beauvais konnte erfolgreich gehalten werden.

Am westlichen Ortsausgang von Beauvais beginnt ein Radweg auf einer demontierten Bahnstrecke – „voie verte“. Dort treffe ich einen Tibeter, ebenfalls mit dem Fahrrad. Er hat sich ein wenig verirrt und fragt mich, wie er nach Beauvais kommt. Zum Glück kann ich wenigstens das ziemlich genau sagen. Wir unterhalten uns eine Weile. Dann nutze ich die Gunst der Stunde und radele entspannt den Radweg entlang. Da geht es zügig voran! Nach einigen Kilometern liegt auf der Nordseite des Radwegs ein großer Vergnügungspark. Aber alles ist geschlossen. Lediglich ein paar Techniker sind im Gelände unterwegs. Auf einer alten Eisenbahnbrücke hocke ich mich in den Windschatten der Betoneinfassung und koche mir auf meinem Bierdosen – Kocher, neueste Ausführung, eine Spirelli-Suppe. Das nimmt immer noch einige Zeit in Anspruch, aber ich kann mich einfach mal richtig satt essen. Mein Energiebedarf ist sowieso immens.

Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: on the way

An den „Bahnübergängen“ hängen überall Ausdrucke auf gelbem Papier. Irgendwelche Warnhinweise. Aber ich verstehe nur Bahnhof. Später kann ich diese mit deepl.com übersetzten – es geht um den Eichenprozessionsspinner. Das ist ein Schmetterling, der Eichen bewohnt und wohl hier wiedermal stark verbreitet ist. Seine Raupen sekretieren ein Gift, welches die menschliche Haut unter Sonnenlicht stark schädigen kann. In den letzten Jahren gab es in Europa immer wieder mal sommerlichen Massenbefall mit dem Eichenprozessionsspinner, was möglicherweise auch auf die ungewöhnlich warmen Winter zurückgehen kann.

Immer noch handelt es sich um den Radweg Paris – London. Und regional ist dieser zusätzlich als „Trans’Oise“ – Radweg gekennzeichnet. Eine schöne Strecke zum „Meter machen“.

Doch leider endet auch dieser Radweg mal wieder plötzlich in einem Gebüsch – sprich, die Ausbau-Etappe ist zu Ende. Und wiedereinmal komme ich in einem Ort ins Stauen: Saint Germer de Fly. Auch das ist eine alte Abtei, allerdings mit einem richtigen Dorf rundherum. Die riesige Kirche ist so eine Art Doppelkapelle oder Doppelkirche. Im Osten, wo bei einfachen Kirchen eine Apsis angebaut ist, steht hier im Grunde noch einmal eine etwas kleinere Kirche, die Chapelle de la Vierge. Habe ich vorher so noch nie gesehen. Auch dieser ganze Komplex ist gerade nicht in Top-Form, also lange nicht „sandgestrahlt und persilgewaschen“, doch Kirche und Abteil zusammen mit dem Ort Saint Germer de Fly macht das irgendwie gerade den Reiz aus. Wie ich schon im ersten Teil geschrieben habe – es wirkt nicht postkartenidyllisch hochglanzpoliert, dafür aber authentisch. Ich fühle mich eher zurückversetzt in Zeiten, wo hier vielleicht noch Hunderte von Mönchen in schwarzen Kutten und langen Reihen zum Gebet gezogen sind. Leider zieht stattdessen erstmal eine Gewitterfront durch und ich sitze wiedermal in einer Bushaltestelle fest. Doch der Regen währt nicht lange und ich kann meine Fahrt fortsetzen.

Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: Abbaye Saint Germer de Fly
Saint Germer de Fly – Doppelkirche
Chateau Agnetz
Chateau Agnetz
Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: Eglise Agnetz

Im Moment ist das mit den Bergen nicht so schlimm. Klar, es gibt auch hier ab und zu Hügelketten zu überwinden. Doch meistens geht es mehr oder weniger auf einer Höhenlinie westwärts. Die Straßen sind weiterhin kleine wenig befahrene Nebenstraßen. Nur gibt es wesentlich mehr Ortschaften als im ersten Teil der Tour bis Reims. Es scheint auch mehr gebaut zu werden, also auch auf ausgewiesenen „Eigenheimstandorten“, wo dann gleich mal 5, 6 oder mehr relativ ähnliche Häuser entstehen. Doch trotzdem haben viele der Orte einige schöne, historisch anzusehende Gebäude, die der Region ein Gesicht geben. Vor allem sehe ich zunehmend Fachwerkhäuser, oft auch mit Lehmwänden – ein Zeichen dafür, daß wir uns in einer Flußebene bewegen. Das Fachwerk ist ander als bei uns – es gibt weniger horizontale Streben oder Riegel, sonder meist lange, aufrechtstehende Stiele, die kaum Querverbindungen aufweisen. Dafür stehen sie relativ dicht beieinander. Was umso mehr erstaunt – es häufen sich sogar Reetdach – Häuser! Das ist hier, noch „mitten im Land“, doch etwas verwunderlich. Kommt das Rohmaterial dafür von den Ufern der Seine? Oder von den Ufern einiger der Fischteiche, die es hier mancherorts gibt? Fündig werde ich bezüglich dieser Frage nicht…

Mit dem Nachtlager werde ich langsam leichtsinnig. Die letzte Nacht vor Rouen verbringe ich in einem großen Wald. Es ist schön am Spätabend – ich lege mich hin, das Tarp eingepackt nur daneben. Notfalls kann ich ja… Mitten in der Nacht werde ich wach. Es blitzt und donnert um mich herum und Regen beginnt herunterzuprasseln. Ansonsten ist es stockfinster. Nichtmal meine Taschenlampe finde ich so schnell. Ich raffe nur meinen Schlafsack zusammen, werfe mir das Tarp im Sitzen über und versuche es, so gut wie es geht, über meinen Platz auszubreiten. Vor allem den Schlafsack behüte ich wie eine Glucke. Das gelingt ganz gut, aber ansonsten ist es erstmal vorbei mit der Nachtruhe. Die Blitze zucken um mich herum, gefolgt von heftigen Schlägen nur Sekundenbruchteile später. Ein Angsthase bin ich nicht, aber so einige Gedanken gehen mir doch durch den Kopf… wird man mich dann Wochen später hier finden? Werde ich jetzt das Schicksal der „Toten Magd“ teilen? Und wenn, werden dann die Wanderer auch Jahrhunderte später noch Blumen niederlegen oder werden alle sagen ‚Selbst schuld..‘? Es dauert lange, ehe das Gewitter abzieht und den Regen mitnimmt. Als es dann endlich soweit ist, fange ich im Taschenlampenlicht nochmal so einigermaßen ordentlich an, mein Lager herzurichten. Ein paar dicke Brombeer – Stränge stören dabei heftig – wegen denen war ich am Abend zuvor auch so abgeneigt, überhaupt das Tarp aufzubauen. Das Risiko, mir große Löcher ins Tarp zu reißen, schien mir größer als das Regenrisiko.

Der Morgen tut mal wieder, als wäre nichts passiert. Stimmt ja auch, alles ist heile, nur die Isomatte, das Tarp und ein paar kleine Ecken am Schlafsack sind naß. Alles halb so wild. Heute steht die Fahrt nach Rouen auf dem Plan. Von Longwy sind das 426 km plus dem Abstecher nach Reims und ein paar kleinen Abweichungen, weil ich mich desöfteren mal verfahre. Um Batterien zu sparen, mache ich das Garmin GPS zwischendurch immer aus, wenn es ja doch „nur geradeaus“ geht. Kommt aber auf den Maßstab an – manchmal sind es dann kleine Wege, die leicht rechts oder links von der Hauptfahrbahn abweichen – und schon bin ich mal 4 km weg vom Track. Denn mit Vorliebe kommen solche Abzweige dann, wenn’s super rollt und ich schnell ein paar Kilometer fressen will.

Um nach Rouen reinzukommen, muß ich mal wieder auf eine große Straße. Da geht’s in rasender Fahrt den Berg runter. Das Seine-Tal bei Rouen ist ein tiefer Einschnitt in die Landschaft. Und meine Ladung schiebt! So eine Raserei ist mir schon fast unheimlich. Später komme ich auf eine kleine Seitenstraße. Diese folgt einem schmalen Flüßchen. Mehrere Wassermühlen stehen hier, z.T. sogar noch funktionsfähig und im Museumsbetrieb.

Dann erreiche ich das Zentrum von Rouen. Ich habe mir eine private Unterkunft gebucht. In der automatischen Antwort wird mir versprochen, Informationen zum Zugang (einen Schlüsselcode) zuzusenden. Jetzt hoffe ich, daß das alles schnell geht, dann habe ich noch einen schönen Abend in der Stadt. Einige Ecken mit einladenden Kneipen und feierfreudigen Menschen davor habe ich schon gesehen. Doch aus meiner Etappenfeier – immerhin war Rouen mein erstes Track – Ziel in Frankreich – wird nichts. Der Unterkunftsbetreiber läßt mich hängen, geht auch nicht ans Telefon. Nach einer Stunde rufe ich die Hotline von bookingcom an und schildere mein Problem. Der Service-Mitarbeiter schickt selbst noch eine mail an den Eigentümer, nachdem auch sein Anrufversuch nichts gebracht hat. Ich soll eine halbe Stunde später nochmal anrufen. Dann ist eine Frau dran. Diese sagt mir, daß der Betreiber nicht erreichbar ist und sie diese Buchung storniert. Sie sucht mir innerhalb von 10 min eine Ersatzunterkunft und sagt mir zu, daß bookingcom die Mehrkosten übernimmt. Dadurch komme ich in ein Hotel am Rande des Zentrums von Rouen. Das ist wirklich ziemlich gut – vor allem zum Tarp und Schlafsack trocknen. Aber inzwischen ist es schon halb zehn und ich habe keine Lust mehr, heute noch rauszugehen. Da hole ich lieber etwas Schlaf nach und nutze Strom, Laptop und wifi-Netz.

Rouen Fachwerkhäuser
In Rouen
Rouen no Pizza
.. heute keine Pizza

Der nächste Tag ist ein Sonntag. Ich lasse mein Gepäck im Hotel und fahre mit dem Rad ein Stück weiter ins Zentrum. Ungewohnt, wie leicht das auf einmal ist! Dann mache ich zu Fuß meine Stadterkundungen. Rouen hat mehrere große Kirchen. Ich komme zuerst an der Abbatiale Saint Ouen vorbei, die am Place du Générale du Gaulle liegt. Der Palast daneben ist das Rathaus… alles nicht von schlechten Eltern!

Auch im Zentrum von Rouen stehen eine Reihe von solchen Fachwerkhäusern im Normandie – Stil, wie bereits beschrieben – viele Ständer relativ dicht nebeneinander ohne Streben.. Einige der engen Straßen sind sehr schön, gerade durch diese recht unregelmäßigen, manchmal schiefen Häuser.

Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: Rouen Cathedrale
Rouen – Cathedrale Notre Dame

War diese „Klosterkirche“ schon ziemlich groß und beeindruckend, die Cathédrale Notre Dame von Rouen überragt die umgebenden Häuser um ein Vielfaches. Das riesige Portal weist schier unzählbar viele Fialen, Türmchen, Figuren, Fensterchen und Ziergiebel auf, daß ich fast überfordert bin mit der Ansicht. Claude Monet hat diese Fassade 1894 in einem Gemälde festgehalten. Farbenfroher als der Original – Stein. Drei verschiedene Türme prägen das Bauwerk und sich auch von Weitem schon sichtbar. Der Nordturm hat ein spitzes Pyramidendach, welches in einem kurzen First ausläuft, auf dem zwei Kreuze stehen. Der Südturm dagegen hat fast über die gesamte Höhe eine quadratische Grundfläche, ist also viereckig, doch oben sitzt noch einmal ein Zylinder auf. Wobei diese Angaben nur theoretisch sind – durch die vielen Verzierungen sind die geometrischen Figuren weitgehend aufgelöst und die Gestalt ist so filigran, daß eine Beschreibung nur in groben Zügen möglich ist. Der Vierungsturm jedoch wird von einer nach oben strebenden Spitze bekrönt, die alles überragt und steil in den Himmel schießt. Kurz vor dem Ende ist dann noch einmal eine Glocke eingebaut, ohne die die aufstrebenden Linien wohl schon fast langweilig erscheinen würden. Doch trotz dieser kleinen Unterbrechung setzen sich die steilen Kanten darüber fort und enden in der Höhe mit einem Kreuz, auf dem ein Vogel (Kranich?) steht.

Direkt gegenüber des Nordturms der Kathedrale mündet die Rue du Gros Horlage ein, in der ein Tor mit einer Goldenen Uhr steht. Das erinnert mich stark an die Aposteluhr am Prager Rathaus. Ein alter, unvergessener Eindruck von einer meiner ersten Reisen im Jugendalter.

Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: Rouen
Rouen Rue de Gros Horlage

Weiter westlich kann sich der Justizpalast von Rouen durchaus sehen lassen. Vor allem in der Umgebung zwischen einer Reihe von modernen, weniger ansehnlichen Kaufhäusern.

Und dann ist da noch die Eglise Sainte Jeanne d’Arc. Ein eher moderner Bau, der auf einem Platz zwischen alten Fachwerkhäusern zu liegen scheint wie ein schuppiger Drachen. Schon bei meinem ersten Besuch in Rouen war mir dieser Kirchenbau aufgefallen und eigentlich die beständigste Erinnerung geblieben. Diesmal kam ich von der anderen Seite ins Zentrum und mußte richtig danach suchen. Fast wollte ich die Erinnerung als Spuk abtun, der sich über die Jahre in mein Gedächtnis eingefressen hat – dann habe ich sie doch noch wiedergefunden.

Das Zentrum von Rouen war trotz Corona – Reglement sehr belebt an diesem Sonntag nachmittag. Was für mich widersinnig und ziemlich unangenehm war – in der Region blieben alle öffentlichen Toiletten wegen Corona geschlossen! Keine Ahnung, was das soll – für mich war es jedenfalls einigermaßen befremdlich. Letzlich habe ich mich auf die Toilette einer Fastfood-Kette gerettet, obwohl daneben, auch wegen Corona, Platzanweiser mit Handspray und Maske standen.

Rouen - Eglise Sainte Jeanne d'Arc
Eglise Sainte Jeanne d’Arc
Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: Seineufer Rouen
Seineufer in Rouen

In Rouen endet mein erster Track Longwy – Rouen. Jetzt habe ich einen neuen Track auf meinen Garmin geladen: Rouen – Roscoff, in der Variante „mit D-Day-Strand“, 530km. Irgendwie finde ich es motivierend, dort bei Caen schon mal auf die Kanal – Küste zu stoßen. Diese ist ja auf Übersichtskarten deutlich zu sehen und macht damit auch die Entfernungen z.B. von Luxemburg aus klar. Außerdem war ich da auch schon mal, mit einem „Schlüssel – Erlebnis„. Aber davon ein andermal…

Am Spätnachmittag hole ich mein Gepäck aus dem Hotel, setze mich auf’s Rad und folge meinem neuen Track. Ende Juni ist es immer noch ewig lange hell, so daß ich den Abend gut für ein paar Kilometer Abstand von der Großstadt nutzen kann. Zuerst geht auf ebener Strecke immer an der Seine entlang. Diese macht in Nordfrankreich riesige Bögen. Gleich hinter Rouen ist sie schon für kleinere Hochsee-Schiffe befahrbar. Deshalb liegen dort auch auf beiden Uferseiten Hafenanlagen. Die ersten Dörfer sind eher Straßenorte mit nur einseitiger Wohnhaus- Bebauung, auf der anderen Seite sind Lagerhallen und Hafen- Abschnitte. Am Ende des ersten Seine – Bogens kommen dann wieder Uferwiesen, kleine Waldstücken, ein Chateau und richtige Dörfer. Und ich muß auf die andere Seite, denn noch bin ich östlich der Seine. Dazu zeigt mir mein Track eine Fähre. Diese hat an diesem Sonntag abend voll zu tun. Jede Menge Ausflügler sind mit Autos unterwegs und warten in einer langen Schlange darauf, auf die andere Seite gebracht zu werden. Ich fahre erstmal noch ein Stück den Uferweg weiter – es ist die Sonnenseite – und mache auf einer aus gefällter Uferpappel gefrästen Bank meine Abendbrot – Pause.

Als ich die Fähre befahren will, werde ich streng angesprochen. Nach einigem Gestikulieren wird mir klar, was der Einweiser da will. Mit einer Hand das Fahrrad balancierend, ziehe ich meine Gesichtsmaske aus der Hosentasche. Ist ja öffentlicher Nahverkehr, da gilt auch in Frankreich Maskenpflicht. Da die Autofahrer neben mir keine aufhaben, war mir das gar nicht in den Sinn gekommen.

Nach fünf Minuten bin ich auf der anderen Seine- Seite in La Bouille. Dort muß ich ein Stück die Uferstraße weiterfahren, die sehr belebt ist. Dann geht es links in eine kleine Seitenstraße – und richtig heftig mal wieder bergauf. Ich versuch’s gar nicht erst lange – ich schiebe. Zwei Radfahrer holen von hinten auf – Jugendliche, die mit unbeladenen mountain-bikes den Berg hochkurbeln. Bei der Übersetzung müssen sie so schnell kurbeln, um überhaupt vorwärts zu kommen, daß ich schon vom Zusehen fast einen Herzkasper bekomme. Das geht zwar leicht, aber ich finde das für meinen Kreislauf zu anstrengend. Denn ich mag es mehr, langsam, aber mit Kraft in die Pedale zu treten. Doch bei zu steilen Bergen wird das nichts, dann steige ich ab und schiebe lieber das Stück nach oben. Ist zwar langsamer, aber auch gar nicht so schlecht – Ich richte mich dabei mal auf, der Körper kann sich strecken, die Beine und überhaupt alle Muskeln machen wieder ein paar andere Bewegungen… Letztlich kann ich dem doch etwas abgewinnen.

Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: westliches Seine-Ufer
Nach Überquerung der Seine

Eine Weile später bin ich auch oben. Westliches Seine- Ufer, das Tal gerade hinter mir gelassen. Da kommt erstmal eine Hochebene. Relativ langweilig – Felder, Weiden, kleine Örtchen… ziemlich offenes Land. Zwischendurch treffe ich auf ein paar Autobahnen, die sich hier verzweigen. Mein Weg liegt einige Kilometer direkt daneben. In der abendlichen Hitze dürstet mir nach einem Bier. Als ich eine Raststätte entdecke, versuche ich, dort reinzukommen. Leider ist alles mit stabilen, hohen Zäunen umgeben. Das ist mir ziemlich neu – vor Jahren habe ich desöftern auf meinen Tramptouren französische Autobahn – Raststätten angesteuert, da man von dort sehr gut wegkommt. Da gab es immer Schlupflöcher in den Zäunen. Ein paar Meter weiter findet sich dann auch am Parkplatz ein Stück niedergetretener Zaun mit Trampelpfad. Ich schließe mein Rad draußen hinter einem Busch in Deckung an und gehe zum Tankshop. Da gibt es ja so einiges – aber kein Bier. Stimmt, französische Autobahn-Shops verkaufen kein Bier! Na gut, als „Ersatz“ nehme ich mir dann eben eine Literpackung Milch mit. Und mein Frühstücksbaguette. Mit dieser kurzlebigen Zusatzfracht geht die Radtour weiter, bis ich einen Lagerplatz finde.

Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: Normandie - Küste bei Villers-sur-Mer
Normandie – Strand
Normandie: Villers-sur-Mer
In Villers-sur-Mer

Am nächsten Abend erreiche ich bei Villers sur Mer die Küste. Ich mache ein paar Fotos am Strand und streiche durch die Straßen. Es sind einige Touristen unterwegs in der Abendsonne, aber doch relativ wenige für Ende Juni. In einer Grünfläche hinter der Strandpromenade steht ein riesiger, etwa 8m hoher Dinosaurier aus Grünpflanzen zwischen Blumenbeeten. Auch in den Straßen gibt es viele Blumenkästen und Blumenampeln. Doch das ist in Frankreich inzwischen ein recht gewohnter Anblick. In den Restaurant – Freisitzen ist Leben, doch viele Häuser haben geschlossen. Die Suche nach einem Nachtlager ist etwas kniffelig. Ein Stück außerhalb des Ortes werde ich auf einem verwilderten, aufgegebenen Grundstück fündig. Allerdings muß ich dazu mal wieder das Rad über einen Wall schieben, wo ein kleiner Pfad darüber geht. Dreißig Meter rein, dort ist ein kleiner Platz zwischen schiefen Bäumen und wucherndem Brombeergestrüpp für mich frei. Da das Wetter hier an der Küste wechselhaft ist, spanne ich auch mein Tarp über das Ganze. So verbringe ich eine ruhige Nacht an diesem abgelegenen Ort.

Am Morgen geht die Fahrt in südwestlicher Richtung weiter – immer an der Küste entlang. Houlgate, Dives sur Mer, Merville – Franceville Plage. Dann kommt ein Naturschutzgebiet, welches das Mündungsgebiet der l’Orne einschließt. Mit Naturschutzstation „Maison de la Nature & de l’estuaire“. Dort sind Schüler gerade dabei, die Schautafeln zu inspizieren. Ein Stück abseits mehrere Sitzgruppen. Auf einer hat schon eine Familie mit ihrem Picknick – Korb mit dem Frühstück angefangen. Ich lehne mein Rad an einen Baum und baue meine Frühstücksutensilien auf dem Tisch daneben auf. Nach der Stärkung schaue ich mich im Gelände um. Knabenkräuter und andere Orchideen wachsen auf den Feuchtwiesen (Orchis pyramidal). Ein paar Runden mit der Kamera ergänzen meine Fotosammlungen. Von den Marschwiesen hinter dem Strand kommen zwei Frauen mit Spektiv und Stativ. Dort werden offenbar auch an mehreren Stellen halb in den Boden eingelassene Beobachtungsstationen aufgebaut. Ein Stück weiter, schon am Flußarm, steht dann ein Beobachtungsturm. Da muß ich gleich erstmal hoch. Aber trotz Fernglas ist an Vogelwelt zu dieser Zeit nicht allzu viel zu sehen. Dafür kann ich über den wilden Arm der Orne schauen bis zum Leuchtturm an der Ausfahrt des schiffbaren Orne – Kanals. Der liegt schon relativ nahe, aber um über eine Brücke den Kanal zu überqueren, muß ich fast 4km nach Süden fahren. Dann geht es über eine Hub-Brücke auf die Westseite. Eine Brückenöffnung habe ich leider nicht gesehen, allerdings sieht die Konstruktion so aus, als würde der Brückenkörper auf riesigen Radvierteln nach hinten rollen und dabei die Fahrbahn wie einen großen Uhrzeiger nach oben heben.

Maison de la Nature Merville-Franceville-Plage
Maison de la Nature
Radtour Frankreich Reims - Mont-Saint-Michel: Orchis Pyramidal
Orchis Pyramidal

Gleich neben der Brücke befindet sich ein Museum zur Landung in der Normandie. Und das Gedenken an diesen 6. Juni 1944, den „D-Day“, wird mich auf den nächsten Kilometern begleiten. Denn hier liegen die Landungs – Strände der Invasionstruppen.

Am Kanal entlang fahre ich jetzt wieder nordwärts. Der Weg verläuft schnurgerade neben dem Wasserlauf auf den Fährhafen zu, der direkt an der Mündung liegt. Im Gebüsch neben dem Kanal sehe ich einige schwarzhäutige Menschen in provisorischen Zelten hausen, einer wäscht im Flußwasser seine Schuhe – offenbar Flüchtlinge, die darauf hoffen, irgendwann mal zur richtigen Zeit ein Schlupfloch zu finden, um mit der Fähre nach England fahren zu können.

Der Fährhafen ist inzwischen mit 5m hohen, vierfachen Stacheldrahtzäunen und jeder Menge Kameras eingezäunt. So drastisch war das noch nicht, als ich vor rund 17 Jahren schon einmal hier vorbeigekommen bin.

Das Bild im Ort Ouistreham ist ähnlich wie in Villers sur Mer – mäßiger Urlauberbetrieb, nur ein Teil der Gastronomie hat geöffnet. An einem der Imbißstände nutze ich die Gelegenheit für ein 4-Käse-Sandwich. Dann schlendere ich zurück zur Strandpromenade, auf der eine steife Brise den Sand über die Pflasterung weht. Allerorten ist nicht nur die typische Stimmung eines Badeortes zu spüren, sondern eben auch diese Besonderheit der Landungszone von 1944. Mehrere Denkmäler ehren die verschiedenen Landungstruppen, wobei mir der backpiper William „Bill“ Willin persönlich am nächsten steht. Ein Musiker, eigentlich im Dienste von Freude und Vergnügen, der hier an der militärischen Eroberung eines Küstenstreifens teilnimmt und mit seiner Musik die Kampfmoral der erschütterten, blutenden, sterbenden Kameraden aufmuntern soll. Fast kann ich seine Musik hören inmitten von Maschinengewehrsalven und krepierenden Granaten.

Piper Bill
Piper Bill

Am Bagpiper – Denkmal verlasse ich die Küstenregion und wende mich nach Südwesten, um die anschließende Halbinsel Cotentin abzuschneiden. Es ist Nachmittag, der letzte Juni – Tag und die Straßen sind ziemlich voll vom Berufsverkehr aus der Stadt Caen. Diese muß ich nun leider als erstes umfahren, immer irgendwie zwischen den Pendlern und einzelnen Traktoren eingeklemmt. Dazu kommt natürlich der Wind – mal wieder von vorn. Die rückwärtigen Landschaften der Normandie – Küste sind vor allem landwirtschaftlich genutzt – es gibt nur wenige kleine Waldgebiete und in dieser Ecke auch nicht allzu viele Heckenstreifen. Offenes Land also, leichtes Spiel für den Wind. Erst gegen Abend beruhigt sich der Verkehr – oder ich habe endlich die abgelegeneren Straßen erreicht.

Das ist die Region des Calvados. Ein Apfelbranntwein, den früher wohl jeder Bauer selbst gebrannt hat. Erst seit den 50er Jahren ist der Anbau und die Herstellung streng reglementiert und die Bezeichnung als Marke geschützt. Gekostet habe ich bisher noch nie, ich bin kein Freund härteren Alkohols und eine Gelegenheit hat sich auch nicht ergeben. Also, nicht eine Flasche kaufen zu müssen, sondern mal ein paar Schluck von jemandem zu „schlauchen“. Mich erinnert der Calvados mehr an ein Buch – „Arc de Triomphe“ von Erich Maria Remarque*. Das stand im Bücherregal meines Vaters und ich habe es eher gelesen, als das weltbekannte „Im Westen nichts Neues*“. Inzwischen erinnere ich mich vor allem noch daran, daß der Hauptheld Ravic als Flüchtling in Paris lebte und desöfteren einen Calvados getrunken hat. War offenbar gegen alles gut – Kälte, Magenschmerzen, Seelenleid…

Als ich auf das erste Waldstück treffe, entscheide ich mich, noch ein paar Kilometer weiterzufahren. Es liegt mir zu offen in der Landschaft, außerdem direkt an der Straße. Und es ist ja noch relativ früh am Abend. Laut Garmin finde ich den nächsten Wald in rund 8, 9km Entfernung an einem Bahnübergang. Das stimmt dann auch. Abseits einiger versprengter Grundstücke fahre ich einen Bahnweg entlang und biege dann in das Waldgebiet ab. Mein Tarp spanne ich in dieser Nacht in einem Jungwald auf. Relativ licht, aber mit einer angenehm weichen Laubdecke, die meine ziemlich dünne Isomatte sehr gut ergänzt. Dann lasse ich mir ein etwas spätes Abendbrot schmecken und lese noch ein paar Seiten im eReader.* Mit einer ruhigen, erholsamen Nacht beginnt der Juli.

Radtour Frankreích Reims - Mont Saint Michel: Tarp
Tarplager

Meinen Frühstückskaffee bekomme ich im FDJ-Laden in Brecey. Das Essen verlege ich auf eine Bank neben der Kirche, obwohl die Straße davor ziemlich belebt ist. Der Ort liegt auch mal wieder auf einem Hügel, die Weiterfahrt führt zuerst in ein Tal. Natürlich nur, um dann auf der anderen Seite wieder einen Anstieg zu präsentieren. Aber das ist hier relativ harmlos. Am Ortsrand zeigt mir einer „Daumen nach oben“. Einfach so – ‚toll, daß Du so beladen und offensichtlich weit mit dem Rad unterwegs bist‚. Ich bin inzwischen ziemlich braun gebrannt. Das fast alle Leute mit „B’n jour“ grüßen, bin ich schon gewohnt und mache das genauso. Aber manche zeigen echt mehr Interesse und drücken mit kleinen Gesten Anerkennung aus. Mich macht das ein wenig Stolz, zumal ich für mich auch weiß, wieviele Kilometer und Anstrengungen schon hinter mir liegen.

Am frühen Nachmittag bin ich in Ducey. Nie gehört vorher… Und zuerst will ich auch gar nicht reinfahren, denn es geht gerade mal wieder zügig auf einem Bahnradweg entlang. Dieser folgt dem Flüsschen Ducey les Cheris. Doch der Hunger treibt mich in die Stadt. Und den Abstecher ist es tatsächlich wert. Die Stadt hat einige schöne grüne Parkanlagen, liegt an mehreren Flußläufen und bietet mit einem Schlößchen und hübschen Altsstadthäusern auch überraschend freundliche Ansichten. Leider nervt der Durchgangsverkehr etwas. Ansonsten ist nicht allzuviel los, die Corona – Beschränkungen drücken wohl auf die Ausgeh- Laune der Bewohner. Aber mein Essen schmeckt, es gibt ein paar nette kleine Restaurants mit unterschiedlichen Stilrichtungen.

Ducey Radtour Frankreích Reims - Mont Saint Michel:
Ducey

Zurück auf dem Bahnradweg, entdecke ich einen Wegweiser: Mt. Saint Michel noch 12km! Na, die schaffe ich ja heute noch! Zumal, mit so einem Super – Radweg.. Doch die Freude währt weniger lang als gedacht. Einmal, weil der Radweg schon nach 4 oder 5 km bei Rontaubault endet und zum Anderen, weil die Kilometerangaben auf den Schildern irgendwie immer weiter, statt kürzer werden. Aber immerhin, schon ein kurzes Stück hinter Rontaubault kann ich den Michel in seiner Meeresbucht mal sehen. Es geht auf schmalen Straßen immer an der Küste entlang, die hier einen Trichter bildet, in dem dieser Ducey-Fluß zusammen mit der La Selune in den Kanal mündet.

Manchmal gibt es auch einen Radweg neben der Straße. Oder einen Weg durch das Marschland, doch da komme ich einmal plötzlich zwischen Weidezäunen raus, mit Draht über’m Weg und bellenden Hunden. Das ist mir weniger angenehm. Dann doch wieder auf die inzwischen größere und belebtere Straße.

Radtour Frankreích Reims - Mont Saint Michel: Bucht
Bucht von Mont Saint Michel

Letztlich erreiche ich so eine Art „Brückenkopf“ — riesige Parkplätze, Zufahrtskontrollen, Versorgungsanlagen usw., die den Touri – Ansturm auf den heiligen Michel auffangen sollen. Ich schleiche mich über einen Seitenweg in das Gelände und umgehe damit die Park-and-Ride – Zone.

Erstmal stelle ich mein Rad auf einem der Fahrradparkplätze ab. Es ist kein Betrieb, mein Rad steht dort fast allein. Aber mit allem Gepäck. Ich selbst gehe mit Kamera „bewaffnet“ zu einem Wehr, welches den Fluß Le Couesnon von den Gezeiten abtrennt. Von dort habe ich schon mal einen guten Blick auf die Klosterinsel in der Bucht da draußen. Ein Stück hinter dem Wehr beginnt eine aufgestelzte Straße durch das Marschland, die sich im Bogen auf den Felsen zu windet. Breiter Fuß/ Radweg, Fahrbahn, nochmal ein Streifen Fußweg… Radweg? voie verte! So sind viele der Radwege bezeichnet, v.a. oft die Bahnradwege: Grüne Spur! O.k. von Mai bis September ist der Radweg nur ab 18:00 Uhr abends geöffnet. Es ist erst kurz nach vier. Doch ich sehe eine Gruppe von Radfahrern, die einfach weiterfährt. Und viel Betrieb ist auch nicht. Also los, wenigstens bis zum Felsen hin kann ich ja mal machen. Rein will ich heute sowieso nicht. Ich hole also mein Rad und mache mich auf den Weg. Die meiste Zeit zu Fuß, ich genieße die Aussicht und mache eine Menge Fotos. Das Rad ist dabei schon etwas hinderlich. Aber was soll’s, dafür hat es mich über nun wohl schon 700km treu getragen. Es ist schönstes Fotowetter, blauer Himmel und Sonnenschein mit ein paar kleineren „Zierwolken“. Das will ich natürlich ausnutzen. Dramatische Bilder gibt’s heute natürlich nicht, so mit tosenden Wellen, jagenden grauen Wolkenfetzen und dahintreibender Gischt… Eher die Postkarten – Idylle. Und einigermaßen Platz habe ich auch – es sind nicht allzu viele Touris unterwegs.

Die anderen Radfahrer haben ihre Räder samt Gepäck einfach vor dem Tor an einen Felsen gelehnt und sind auf dem Berg verschwunden. Das traue ich mich nicht, obwohl dort ein paar „Streifenpolizisten“ und manchmal sogar sowas wie schwerbewaffnete SEK-Leute rumschleichen. Denen ist mein Rad sicher total egal. Oder vielleicht schlimmer, verdächtig. So ziehe ich es vor, einfach mal außen rundrum zu laufen und hebe mir den Besuch für später auf.

Radtour Frankreích Reims - Mont Saint Michel:

Dann ziehe ich mich von diesem Besuchermagneten zurück. Ich muß mir noch was Eßbares besorgen für Nacht und Frühstück und einen Schlafplatz suchen. Diesen finde ich an einem der Deiche im Landesinneren. „Dyke de la Duches Anne“ – Deich der Baronin Anne. Wenn das mal nicht ein ziemlich adliges Schlafzimmer ist. Ideal mit Ausrichtung nach Osten, was vor dem kräftigen Wind von der See schützt und frühzeitige Sonne beschert. Die hilft mir ungemein, rechtzeitig aus den Federn zu kommen. Sogar ein passender Knüppel liegt bereit, an dem ich mein Fahrrad abstützen kann! Als ob jemand meine Schlafstelle vorbereitet hat. Das Tarp spanne ich von den Büschen der Böschung her ab. Auf der anderen Seite wächst Mais. Hoch genug, daß niemand drüber gucken kann. Ein sehr ruhiger Platz und praktisch direkt am Radweg. Jetzt bin ich zuversichtlich, daß ich die „paar Kilometer“ bis Roscoff auch noch schaffe. Mit dem Blick auf die Frankreich-Karte habe ich schon einen ganz schönen Strich durch die Landschaft gezogen. Morgen werde ich wohl Saint Malo erreichen.

Weiter zum 3. Teil der Reise – St.Malo nach Roscoff

One thought on “Radeln von Reims zum Mont Saint Michel

  1. Schöne Fotos und es scheint auch wirklich abwechslungsreich gewesen zu. sein. An der Suche nach einem Dönermann bin ich in Frankreich auch schon verzweifelt! Außerhalb der touristischen Zentren sind sie spärlich gesät und die Öffnungszeiten tun ihr Übriges. Aber gerade in Frankreich bietet sich doch das Mittagsmenü „plat du jour“ als bezahlbare Alternative an.

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