Das Vorspiel zu den historischen Kingsbridge – Romanen von Ken Follett
Das vierte Buch ist eigentlich das Erste. Über 30 Jahre nach der Veröffentlichung von „Pillars of Earth“ – die „Säulen der Erde“ schreibt der walisische Bestseller – Autor Ken Follett mit „Kingsbridge – Der Morgen einer neuen Zeit“ einen vierten Band seines großen Historien – Zyklus.
Dieser ist chronologisch gesehen vor den drei anderen Bänden angesiedelt und beschreibt die Vorgeschichte des Handlungsortes um die erste Jahrtausendwende herum.
Wer also bisher noch keinen der Kingsbridge – Romane gelesen hat, sollte mit diesem beginnen. Doch auch für mich, der ich alle Bücher der Reihe in der Chronologie des Erscheinens gelesen habe, lag in dieser Lektüre durchaus ein Reiz. Denn Geschichte hat keinen Anfang und kein Ende, man kann in der Betrachtung willkürlich hin und her springen, wird immer losgelöste Geschichten in der Geschichte finden und aber auch Bezüge, die sich über Jahrhunderte zurückverfolgen lassen. Hier ist man also mal nicht „neugierig, wie’s weitergeht„, sondern „gespannt, was vorher schon passiert ist„.
Die Handlung beginnt kurz vor der Jahrtausendwende, 997, im Süden Englands mit einem kurzen Impuls der zu Ende gehenden Wikingerzeit. Follett beschreibt die historische Situation als finstere Zeit des Mittelalters nach dem Zerfall des Römischen Reiches, deren grandiose Bauwerke über Jahrhunderte dem Verfall preisgegeben waren. Die Menschen leben in einfachen Holzhäusern mit offener Feuerstelle und können eher weniger als mehr Lesen, Schreiben und Rechnen. Doch es zeichnen sich Veränderungen ab, welche in den Handlungssträngen der Erzählung ihren Niederschlag finden.
Bei einem Wikinger – Überfall auf einen Küstenort in Südengland verliert die Familie eines Bootsbauers ihre Werft und das Familienoberhaupt. Die überlebende Mutter macht sich mit ihren zwei Söhnen auf ins Landesinnere, um in einer kleinen Siedlung mit wenig fruchtbarem Land neu zu beginnen. Der jüngere Sohn, Edgar, der sich auch als Bootsbauer-Lehrling bei seinem Vater sehr geschickt angestellt hat, findet Wege und Möglichkeiten, der Familie Nahrungsquelle und Einkommen zu verschaffen.
Parallel dazu heiratet Ragna, eine kultivierte Prinzessin aus der Normandie einen englischen Edelmann, zu dessen Ländereien die Siedlung gehört. Eine Liebesheirat. Doch die Liebe währt kurz, zumindest von Seiten des Ehemanns, Gier und Machtinteressen wiegen höher. Die kluge Prinzessin mit ihrem Sinn für Gerechtigkeit stört da nur. Ihr Leben gerät zunehmend in Gefahr.
Zu den Wundern von Geschichten gehört, daß sich Menschen begegnen und kennenlernen, die aufgrund von Stand und Rolle wohl kaum eine Chance haben, ein Bündnis einzugehen. Im „Morgen einer neuen Zeit“ treffen der Bootsbauer – Sohn und die Prinzessin aufeinander, entdecken ihre gegenseitige Sympathie und lernen ihre Fähigkeiten zu schätzen. So widerstehen sie zunehmend den destruktiven Kräften von eigennützigen Kirchen – Oberen und machtbesessenem Fürsten, um sich mit ihren Ideen zu behaupten – und damit genau den Grundstein für die neue Zeit zu legen.
Auch dieses Buch von Ken Follett ist durchaus lesenswert. Wer die chronologisch folgenden Romane kennt und schon immer mal wissen wollte, wie der Ort Kingsbridge entstanden ist und warum der König von England die Eichenholz – Pfeiler für die Brücke gestiftet hat, findet in diesem Buch die Antworten. Die Handlung ist durchweg spannend, manche Wendung kommt unerwartet und verblüfft. Der Leser kann sich ein Stück weit in die Zeit versetzen und bei so manchem Abenteuer mitfiebern.
Die Qualität der weiteren Kingsbridge Romane erreicht das Buch allerdings nicht. Vermißt habe ich vor allem den Tiefgang, die detailreiche Beschreibung der historischen Situation anhand prägnanter Episoden. Gerade davon profitieren die folgenden Bücher der Kingsbridge Reihe und heben sich von der Vielzahl historistischer Schmökern ab. Wer diese Romane noch nicht kennt, wird das Buch trotzdem mit Begeisterung lesen können. Denn es hat alles, was ein Abenteuer – Roman so braucht: charakteristische Persönlichkeiten mit Identifikations- Potential, spannende Handlungsstränge, ein sich entwickelndes geschichtliches Umfeld, überraschende Wendungen, eine emotionale Choreografie. Wer bereits wie ich die zeitgeschichtlich nachfolgenden Bücher gelesen hat, sollte seine Erwartungen etwas herunterschrauben. Dann wird er auch nicht enttäuscht den Rückdeckel zuklappen. Den umfassenden, bestens recherchierten Einblick in die Lebenswelt dieser Zeit, wie das in den weiteren Kingsbridge – Romanen der Fall ist, hat Follett mit diesem Buch allerdings nicht gewährt.
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„Kingsbridge – Der Morgen einer neuen Zeit*“ von Ken Follett ist im Bastei Lübbe Verlag Köln erschienen. Es ist als hardcover, Hörbuch (CD oder zum sofort- download) und eBook zu erhalten.
Englischer Original-Titel „The evening and the Morning*“. 2020
Quelle Produktbild: Hersteller/ Verlag/ Händler