Wie junge Leipziger SED und Stasi trotzten
Die Geschichte wird von den Siegern neu geschrieben. Das trifft wohl auf jeden Umsturz, jede Rebellion oder Revolution zu. In Deutschland heißt diese neue Umschreibung Wiedervereinigung und deren auslösendes Ereignis „Fall der Mauer„, das scheinbar wie ein „Gotteswunder“ herniederkam. Daß dem eine friedliche und erfolgreiche Revolution in Ostdeutschland vorausging, wird seit dem Beitritt gern unerwähnt gelassen.
Nur wenig erinnert noch an den 9. Oktober 1989, dem eigentlich entscheidenden Datum, als in Leipzig über 70.000 Demonstranten statt einer angedrohten Tianamen – „Lösung“ den Rückzug der hochgerüsteten Staatsmacht erzwangen und damit den Weg für demokratische Veränderungen in der DDR eröffneten. Klar, es spielten auch äußere Faktoren eine wichtige Rolle – von der wirtschaftlichen Schwäche der DDR über die Gespräche am Runden Tisch in Polen, den Abbau des Grenzzauns in Ungarn und vor allem den Signalen Gorbatschows, Veränderungen in den Ostblock – Ländern nicht durch die Rote Armee niederschlagen zu lassen. Doch ohne den Mut und den wachsenden Veränderungsdruck vieler kleiner Basisgruppen in der ganzen DDR wäre diese Entwicklung wohl viel später und nach langer Agonie oder gar einem wirtschaftlichen Total – Kollaps eingetreten.
Eines der wenigen Bücher, die sich detailliert mit einzelnen Ereignissen in Leipzig vom Beginn des Jahres 1988 bis zum heißen Herbst 1989 beschäftigen, ist das hier empfohlene Sachbuch „Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“. Der Autor Peter Wensierski war bereits mit 25 Jahren ab 1979 als westlicher Korrespondent in der DDR unterwegs und hat selbst häufig den Kontakt zu Dissidenten, kirchlichen Basisgruppen, Jugendlichen und vielen damaligen Akteuren gesucht.
Obwohl das Werk unter der Kategorie „Sachbuch“ gehandelt wird, liest sich „Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“ großenteils wie ein spannender Roman. Der Stil erinnert etwas an die „Gedächtnisprotokolle“, die von Augenzeugen und Verhafteten in der DDR oft nach verschiedenen Ereignissen in der Auseinandersetzung mit der Polizei oder Stasi (Staatssicherheit, politische Geheimpolizei im Auftrag der kommunistischen Regierungs – Partei SED) verfaßt wurden. Vermutlich waren viele derartige Dokumente Vorlage für das Buch. Obwohl die verschiedenen Aktionen und die Reaktionen von Staat, Kirchenvertretern sowie innerhalb der Gruppen fast nüchtern dokumentarisch klingen, ist der Lauf der Dinge packend und aufwühlend. Eine Dramatik, die sich in diesen Tagen tatsächlich so entwickelt hat.
Immer mehr vor allem junge Menschen engagieren sich Ende der Achtziger Jahre in ostdeutschen Umweltgruppen. Die dramatische Umwelt-Situation in Leipzig – von Tagebau-Kratern, Kohlen- Kraftwerken und Koks-Schwelereien umgeben – ist überall zu riechen und zu schmecken. Da hilft auch die strikte Geheimhaltung aller Umwelt – Daten nichts. Die Pleiße, der wichtigste Fluß in Leipzig, ist nur noch ein stinkender, schäumender Abwasser – Kanal und innerhalb der Wohngegenden in Rohre eingezwängt. Die jungen Akteure organisieren zum Weltumwelt-Tag 1988 einen „Pleiße – Gedenkumzug“ für den toten Fluß.
Da dieser weitgehend ohne repessive Folgen bleibt – die Verkehrspolizei sperrt kurzzeitig sogar eine 4-spurige Straße für den Zug – fühlen sich die Gruppen ermutigt, mehr in der Öffentlichkeit zu wagen.
Anfeindungen, Schikanen von Staatsorganen und Berufs- oder Ausbildungs-Verbote führen zwangsläufig zu einem Anwachsen der Themenfelder, mit denen sich Basisgruppen beschäftigen – Gerechtigkeit und Leben, sozialer Friedensdienst und demokratische Mitsprache werden genauso bedeutsam wie Umweltschutz. Das montägliche Friedensgebet in der Nikolai – Kirche ist Anlaufstelle und Podium für die Gruppen, um ihre Themen öffentlich zu machen. Doch der Staat erhöht den Druck auf die Kirchenleitung in der Stadt, damit die Andachten rein religiöse Veranstaltungen bleiben und die Basisgruppen ihr Forum verlieren.
Gezwungenermaßen verlagern die Gruppen im Herbst 1988 ihre Ansprachen auf den Nikolaiplatz vor der Kirche – und erobern so ein weiteres Stück der Stadt. Im Gegensatz zu Berlin schließen die Leipziger Gruppen den großen Kreis der Ausreise – Antragsteller nicht aus. Deren Motive zum Verlassen der DDR haben oftmals die gleichen Ursachen wie das Engagement der jungen Leute in den Basisgruppen. Da Ausreisewillige die Friedensgebete als Druckmittel zur Beschleunigung ihres Ausreise-Verfahrens nutzen, verstärken sie die Macht der Basisgruppen nochmals. Während der alljährlichen Herbst – und Frühjahresmesse können westliche Journalisten und Fernseh-Teams relativ frei nach Leipzig fahren – und berichten dabei auch über die Friedensgebete an der Nikolaikirche und die Situation in der Stadt. Fast alle DDR – Bürger schauen ab 20 Uhr Westfernsehen und erleben staunend, wie immer mutiger die Umwelt- und Menschenrechtsgruppen offen über die wahre Situation im Land sprechen.
Für den Beginn des Jahres 1989 organisieren Leipziger Akteure eine eigene, alternative Ehrung für die ermordeten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht mit Kundgebung auf dem Markt der Stadt und Schweigemarsch zum Geburtshaus von Liebknecht. Sie drucken unter schwierigsten Bedingungen 10.000 Flugblätter und verteilen diese im Stadtgebiet. Doch fast alle Verteiler – und damit ein wichtiger Kern – werden verhaftet. In diesen Tagen findet in Wien eine KSZE – Nachfolgekonferenz statt und die DDR bemüht sich dabei um internationale Anerkennung. Durch europaweite Mobilisierung gegen die Verhaftungen steigt der Druck auf die DDR – Regierung. Westliche Medien, Oppositionsgruppen aus mehreren Ostblock-Ländern, Bürgermeister von Partnerstädten im Westen, Bundestags- Abgeordnete der Grünen und natürlich viele viele Basisgruppen im ganzen Land solidarisieren sich mit den Eingesperrten.
Am Tag der Luxemburg-Ehrung („Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden„) versammeln sich trotz der bekannt gewordenen Verhaftungen über 500 Mutige auf dem Leipziger Markt und schaffen es, bis in die Nähe des Liebknecht – Geburtshauses einen Demonstrationszug durch die Stadt zu führen. Westliche Medien berichten darüber. Wenige Tage später kommen alle Verhafteten durch die Solidarität und den Druck auf der KSZE- Konferenz frei.
Im Laufe des Jahres 1989 kommt die Stasi in Leipzig nicht mehr zu Ruhe. Überall werden Aktionen geplant und durchgeführt. Phantasievoll begegnen die Gruppen dem grauen Alltag in der DDR. Zum Dok-Film-Festival fliegen bunte Luftballons durch die Straßen – beschriftet mit den Titeln kürzlich in der DDR verbotener sowjetischer Filme. Während der Kommunalwahlen im Mai ’89 gibt es in vielen Wahllokalen koordinierte Kontrollen der Auszählung, wodurch der Wahlbetrug dokumentiert und offensichtlich wird.
Im Juni 1989 rufen Leipziger Gruppen und Künstler zu einem Straßenmusikfest in der Innenstadt auf. Trotz Verbot der Veranstaltung kommen Musiker und Laiendarsteller aus dem ganzen Süden der DDR und erfreuen die Spaziergänger. Gegen Mittag machen Polizei und Stasi Jagd auf alle mit Instrumenten in der Hand. Die etwa 200 verbliebenen Teilnehmer ziehen, „Brüder zur Sonne zur Freiheit“ und „Wacht auf, Verdammte dieser Erde..“ singend, zur nahen Polizeistation in der Ritterstraße und fordern die Freilassung. Von Polizeiketten zurückgedrängt, tanzen sie auf dem Leipziger Markt Laurentia „…wann werden wir wieder beisammen sein… am Montag!“
Am nächsten Tag schon gibt es im kohleverdreckten Südraum von Leipzig einen Umwelttag. Gleichzeitig findet in Börln am Rande der Dahlener Heide ein Umwelt-Gottesdienst statt, wo gegen ein geplantes neues Kernkraftwerk am „Schwarzen Kater“ mobil gemacht wird.
Über den Sommer 1989 verlassen tausende DDR-Bürger das Land über Ungarn durch die offene Grenze zu Österreich. Die wirtschaftliche Schwäche des Landes wird unübersehbar. Anfang September während der Leipziger Herbstmesse treten nach dem Friedensgebet die jungen Akteure mit Transparenten auf dem Nikolai – Kirchplatz vor die Kameras „Für ein offnes Land mit freien Menschen„. Das Westfernsehen trägt diese Botschaft in alle DDR – Haushalte. In jeder Woche kommen mehr Teilnehmer zu den Friedensgebeten. Am 7.Oktober 1989 feiern die Genossen in Berlin den 40. Jahrestag der DDR. Gleichzeitig prügeln im ganzen Land Polizeikräfte und Stasi – Schläger auf Demonstranten und zufällige Passanten ein.
Für das nächste Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche am Montag, den 9.Oktober 1989 kündigen die SED Chefs in Berlin mehr oder weniger offen die Niederschlagung des Aufstands an. Nur wenige Monate zuvor fand in Peking das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens statt – vom SED – „Kronprinz“ Egon Krenz offen begrüßt. In der lokalen Leipziger Volkszeitung wurde ein Beitrag von einem Kampfgruppen – Kommandeur lanciert „.. werden wir die Provokateure zurückdrängen.. wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand„. Militär- Fahrzeuge rollten durch Leipzig, Krankenhäuser erhöhten ihre Vorräte an Blutkonserven.
Doch die Leipziger trotzten den Drohungen. Ein Aufruf zur Gewaltlosigkeit wurde über den Stadtfunk verlesen – verfaßt vom international geachteten Gewandhaus – Kapellmeister Kurt Masur, zwei Bezirks – SED-Kadern und einem bekannten Kabarettisten. Vier weitere Kirchen öffneten für Andachten – die Stadt war voller Menschen. Und der Demonstrationszug eroberte sich erstmalig den ganzen Ring um die Altstadt, auch an der „Runden Ecke“, dem Stasi- Hauptquartier vorbei. Polizei, Armee und Stasi zogen sich zurück.
Ab dem Tag änderte sich quasi alles. Die Luft fühlte sich leichter an, die Menschen spürten die neue Freiheit. „Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“ wehte wie ein Frühlingshauch durch das herbstliche Land. Allwöchentlich kamen jetzt Hunderttausende zu den Montags – Demonstrationen nach Leipzig und rangen der Regierungspartei SED Stück für Stück die Macht ab. ..
Das ist die Geschichte, die mit kleinen Gruppen aufrechter Jugendlicher begann. Die sich immer weniger einschüchtern ließen und ihr Leben in Freiheit selbst gestalten wollten. Darüber berichtet das Buch. Es ist überaus dicht an den wahren Geschehnissen. Trotz der sachlichen Schilderung der Ereignisse eröffnet es tiefe Einblicke in die Gedanken – und Gefühlswelt junger Menschen in der DDR Ende der Achtziger Jahre, in ihre Sorgen und Nöte, aber auch Hoffnungen und Utopien für ein verändertes Land, welches neue Zukunftschancen ermöglicht. Diese Jugendlichen verharren nicht in Resignation angesichts eines heruntergekommenen, verrußten, abgewirtschafteten Landes mit lähmender Wiederholung ewig gleicher Phrasen, sondern krempeln die Ärmel hoch für eine politische und ökologische Erneuerung der Gesellschaft.
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Der Titel des Sachbuchs „Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“ stellt offenbar einen Bezug her zum Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins„* vom tschechischen Schriftsteller Milan Kundera. Da baut sich eine Liebesgeschichte um die Ereignisse des „Prager Frühlings“, der Erneuerungsbewegung in der CSSR von 1968, die durch den Einmarsch sowjetischer Panzer niedergeschlagen wurde. Es folgten 20 Jahre unerträglicher Erstarrung in der Tschechoslowakei, aber auch in den anderen Ostblock – Ländern. Die Revolution von 1989 dagegen war (auch in der CSSR und in Rumänien) letztlich erfolgreich und änderte die gesellschaftlichen Verhältnisse in Osteuropa fundamental.
„Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“* von Peter Wensierski ist erschienen als Spiegel-Buch in der Dt. Verlagsanstalt (DVA). Das gebundene Buch hat 463 Seiten.
Es ist auch als Taschenbuch* oder eBook im epub-Format* (mit elektronischem „Wasserzeichen„) erhältlich.
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