Endlich wieder raus aus der DDR…
Auf nach Südost – Europa Teil 1
Das Jahr 1989 ist für mich das Jahr überhaupt in meinem bisherigen Leben. (Leider folgte nach dem Rausch 1990 der Kater)
Die Ereignisse überschlugen sich förmlich, praktisch jede Woche gab es irgendwie neue Entwicklungen und Wendungen. Ende Mai hatte ich überraschend meine Kündigung erhalten. Ich war nach einem Studienabbruch bei der Post im Fernmeldewesen beschäftigt, wollte dort auch noch eine Lehre anfangen. Aber nachdem ich Ende 1988 zunächst „unbemerkt“ aus der „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ) ausgetreten (die FDJ-Kreisleitung hat sich dazu taub und stumm gestellt) und vor Ostern, zum „Westpakete aufreißen“ in eine Postzoll – Dienststelle verliehen, in Bummelstreik getreten war, hatten die Genossen der Fernmeldeabteilung wohl von mir die Nase voll.
Anfang Juni haben wir ein selbstorganisiertes „Jugendwochenende“ in der Kirchengemeinde durchgeführt mit über 100 Gästen aus vielen anderen Jungen Gemeinden, ein voller Erfolg. Keine zwei Wochen später war ich beim ersten offiziell nicht zugelassenen Straßenmusik – Festival in Leipzig dabei, als Polizei und Stasi Jagd auf junge Leute mit Musikinstrumenten in der Hand machten. Schon am nächsten Tag führte ich eine Umweltgruppe mit dem Fahrrad durch den Wald nach Börln am Rand der Dahlener Heide, wo ein Umweltgottesdienst aus Protest gegen ein geplantes neues Kernkraftwerk stattfand.
Ende Juni fuhr ich mit meiner Jungen Gemeinde für ein verlängertes Wochenende nach Marieney im Vogtland, sozusagen als Dankeschön für die viele Arbeit zum Jugendwochenende vier Wochen zuvor. Ich hatte dort einen jungen engagierten Pfarrer kontaktiert, bei dem wir mit Zelten auf dem Pfarrgelände übernachten konnten. Auf dem Weg dorthin wurden wir beim Umsteigen in Leipzig von ziemlich vielen unauffälligen Herren mit einer Hand im Perlonbeutel umkreist. Im Zug nach Plauen kontrollierte uns die Trapo, die Transportpolizei. Das war aber „normal“, denn hinter Plauen begann ja das Grenzgebiet.
Im Juli hatte ich den immer unangenehmen Termin bei der Polizei, Abt. Meldewesen. Doch der verlief ohne Zwischenfälle. Dabei ging es bereits um meine nächste Reise. Die DDR deklarierte zwar offiziell „visafreien Reiseverkehr“ mit den sozialistischen Bruderländern in der Nachbarschaft, praktisch sah das jedoch etwas komplizierter aus. Nur in die Tschechoslowakei konnte jeder DDR – Bürger mit dem richtigen Personalausweis einfach losfahren, an der Grenze kam der Stempel in den Ausweis, fertig. (wer nur „PM12“ hatte, den Ersatzausweis, der einigen auch aufgrund von Zwangsmaßnahmen verordnet wurde, konnte sowieso nicht reisen). Für die anderen Bruderländer mußte man bei der Polizei – Meldestelle eine sogenannte „Reiseanlage zum visafreien Reiseverkehr“ beantragen, die an den Grenzen zusammen mit dem Personalausweis vorgelegt und gestempelt wurde. Den Antrag hatte ich einige Wochen zuvor gestellt und ich konnte das Papier nun abholen.
Jetzt war noch der Besuch bei der DDR Staatsbank – Filiale fällig. Die tschechoslowakischen Kronen bekamen wir normalerweise auch in der Sparkasse. Zum Umtausch für alle anderen Währungen mußten wir zur Staatsbank der DDR. Und dort war streng limitiert, wieviel Geld für Ungarn, Rumänien und Bulgarien ausgezahlt wurde. Einmal gab es einen jährlichen Höchstbetrag und zum anderen einen festen Satz für jeden geplanten Reisetag. Das wurde im Personalausweis eingetragen. Da das ganz schön viele Stempel waren, wurde in den PA ein Leporello eingeklebt, wo genügend Platz für die ganzen Einträge war. Üblicherweise waren die Tagessätze für Bulgarien, Rumänien und auch die Tschechoslowakei einigermaßen ausreichend, wenn man sparsam unterwegs war. Für Ungarn, welches ja mit dem Forint seit einigen Jahren eine frei konvertible Währung hatte, war das Geld ziemlich knapp, etwa 31 DDR-Mark pro Tag. Zumal es in dem Land so manche begehrten Westwaren wie Schallplatten, Jeans oder die BRAVO gab… und die waren schweineteuer. Das lag auch am Umtauschkurs – für eine DDR-Mark gab es 7 Forint. Für eine DM waren es 25 Forint.
O.k., die amtlichen Präliminarien waren also abgeschlossen. Die Post hat mir mit der Kündigung mal wieder einen freien Sommer beschert ( natürlich hatte ich nicht vor, vor dem September wieder irgendwo arbeiten zu gehen – wenn man mir so großzügig die Haupt – Reisezeit freigibt). Und ich hatte diesmal ein paar spezielle Ideen, wie ich unterwegs sein wollte. Inspiriert war das ein Stück vom damals beliebten DEFA – Film „…und nächstes Jahr am Balaton„, der so den typischen DDR- Blues rüberbrachte. Darin wollte eine Familie mit ihrer Tochter und deren immer leicht melancholisch gestimmten Freund mit dem Zug nach Bulgarien fahren. Doch sie verstreiten sich schon auf den ersten Kilometern und so tritt letztlich jeder auf seine Weise die Reise an – u.a. als Tramp – Tour. Daraus entwickelt sich die Filmhandlung als ein road – movie des Ostens.
Ich hatte mir vorgenommen, in dem Sommer allein loszuziehen. Das erste Mal auf so einer großen Tour, unabhängig sein, alles selbst organisieren und entscheiden. Und mich auf die Zufälle am Wegesrand einlassen. O.k., mir war schon klar, daß ich dabei so allein gar nicht sein werde – in jedem Sommer bewegte sich ein riesiger Strom DDR- Bürger in den Südosten. Viele in die Tschechoslowakei, ein großer Teil nach Ungarn, um dort ein Stück „Westen“ zu erleben. (Das war aber eher ein masochistisches Vergnügen, da die Ungarn sehr genau zu unterscheiden wußten, ob es sich um Ost – oder West – Deutsche handelte und das „Quasi-West-Erlebnis“ schon aufgrund des Umtausch – Satzes für Ostdeutsche sich mehr auf „neidisch zugucken“ beschränkte.)
Vor allem wollte ich große Teile der Strecke trampen. Um dabei mehr unabhängig zu sein, habe ich mir in den Wochen zuvor eine Art Seesack genäht. Gegenüber der ziemlich sperrigen Kraxe mit außenliegendem Aluminium – Gestell erhoffte ich mir davon, leichter und schneller in Autos ein- und aussteigen zu können. Auf ein Zelt wollte ich auch verzichten. Das kleinste DDR – Zelt war das „Fichtelberg extra“ und wog immer noch 3kg. War mir alles zuviel. Ich hatte mir einen DeDeRon – Stoff (das DDR-Nylon) als Tarp zugeschnitten und gesäumt und versucht, mit Imprägniermittel wasserdicht zu machen. Später mußte ich dann allerdings feststellen, daß das überhaupt nicht funktioniert hat. Blos gut, daß der Sommer recht trocken war. Mein erstes selbstgenähtes „Tarp“ war also nicht anderes als eine undichte, wenig wärmende Decke. So richtig Luxus dagegen war allerdings mein Daunenschlafsack, den mir ein kleiner Privatunternehmer im Vogtland genäht hat.
Auf meiner kurzen Verabschiedungsrunde durch die Stadt merkte ich schon, daß das mit dem Seesack doch keine so gute Idee war. Trägt sich einfach total unbequem. Eine halbe Stunde, bevor mein Bus fuhr, habe ich die gute alte Kraxe rausgekramt und schnell alles umgepackt. Da paßte sogar noch meine zusammengerollte steife Isomatte drunter, die ich auf „Reichsbahn – Abteiltür-Maße“ zugeschnitten und drastisch gekürzt habe (die wurden als „Reparatur – Matte“ für Auto-Schrauber verkauft und sind ziemlich robust, nehme ich heute noch manchmal).
Mitte Juli ging es dann endlich los. Erstes Ziel war natürlich Dresden. Damals für mich das „Tor zur Welt“, also hier begann der „Hinterauslauf der DDR“. Ich hatte einen Bahnfahrschein bis Bratislava. Leider fingen gleich nach der Abfahrt in Dresden immer schon die Grenzkontrollen an. Das war der unangenehmste Teil der Reisen – 1 1/2 Stunden schwitzen. Bisher hatte ich meistens Glück gehabt und die Kontrolleure haben mich in Ruhe gelassen. Ich habe aber auch schon erlebt, wie andere so kontrolliert wurden. Einmal war ein junges Mädel dran, die das Opfer so einer Zoll-Tante wurde (die Frauen waren meistens besonders fies). Deren Tasche wurde von der Zöllnerin einfach vor aller Augen auf dem Sitz ausgekippt – mit allem, was sich in den Taschen eines Mädels so befindet.
Diesmal war ich als alleinreisender Jugendlicher fällig. Den Kontrolleuren war schon suspekt, daß ich nur ein Ticket bis Bratislava, aber eine Visa-Anlage bis einschließlich Bulgarien hatte. Doch ich konnte ein Rückfahrticket von Bulgarien aus vorzeigen und erzählte was von Freunden, die mich dazwischen mitnehmen. Meinen Rucksack mußte ich trotzdem auspacken. Besonders interessierte die Kontrolleure mein Kalender und darin der Teil mit Adressen. Das war mir bis dahin nicht so bewußt gewesen. Vermutlich suchten die auch nach Westlern oder Kontakten und Hinweisen auf eine mögliche Fluchtabsicht.
Nachdem der erste meinen Rucksackinhalt bis zum letzten Winkel gesehen hatte, durfte ich wieder einpacken. Fünf Minuten später wurden wir aus dem Abteil auf den Gang geschickt – jetzt wurde das Abteil auseinander genommen. Sitzlehnen wurden entfernt, Deckenverkleidungen gelüftet und mit einem Spiegel unter den Sitzen in alle Ecken geschaut. Der Zöllner hat aber nichts gefunden und ging. Kurz darauf kam noch ein Tscheche, schaute sich alle Papier nochmal an und überprüfte meine Taschen. In Decin war der Spuk endlich vorbei und ich raus. Raus aus der DDR.
Das war immer ein Moment der inneren Feier. Klar war mir bewußt, daß der Auslauf trotzdem nur „an der langen Leine“ ging und auch Tschechen und Ungarn immer ein scharfes Auge auf die DDR – Bürger hatten. Aber trotzdem reichte es für ein Gefühl, dort doch um einiges freier zu sein als daheim.
Nun rollte der Zug durch Tschechien. Nach zwei Stunden erreichten wir Praha Holesovice, den wenige Jahre zuvor modern ausgebauten internationalen Bahnhof im Norden von Prag. Aber diesmal wollte ich ja weiter. Viel weiter. Die Nacht brach herein. Froh, unterwegs und fern der beengenden DDR zu sein, machte ich es mir auf meinem Sitz bequem.
Am anderen Morgen erreichte ich Bratislava, die Hauptstadt des slowakischen Teils der CSSR (Czechoslowakische Sozialistische Republik). Im Jahr zuvor hatte ich auf einer Ostertour nach Ungarn bei der Durchfahrt schon vom Zug aus beeindruckende Ansichten von Bratislava bekommen und nun wollte ich mir diese Stadt mal in Ruhe etwas genauer anschauen. Die Lage an der Donau mit der imposanten Donaubrücke vermittelte einen sehr modernen Charakter. Aber es gab auch einige restaurierte historische Straßenzüge, die einen Eindruck der langen Stadtgeschichte hinterließen. Wie ich so suchend und fotografierend durch die Gassen schlenderte, sprach mich ein Mann um die 40 an. Er hatte mich beobachtet und schloß daraus auf mein Geschichtsinteresse. Nachdem wir zusammen an einem Imbiß etwas gegessen hatten, schlug er mir einen Ausflug zur nahegelegenen Burgruine Devin vor. Die sei erst seit kurzem wieder zugänglich, wurde gerade saniert und ist der neue Stolz der Bewohner Bratislavas.
Die Fahrt war auch nicht sehr lang, eine verlängerte Stadtbus – Linie brachte Besucher direkt zum Vorplatz der Burg. So nutzte ich die Gelegenheit und stieg mit Pawel in den Ikarus – Gelenkbus. Was mir nicht klar war – die Burgruine stand direkt an der Donau, auf dem anderen Ufer war schon österreichisches Gebiet. Kurz vor dem Ziel mußte der Bus anhalten – ein Kontrollposten. Das waren aufregende Minuten für mich, denn hier begann das Grenzgebiet. Draußen liefen Uniformierte mit AK47 Maschinenpistolen über den Schultern herum. Für Slowaken war der Zugang zur Burg erlaubt, aber wie sieht das mit den DDR- Bürgern aus. Würden mir da Fluchtabsichten unterstellt? Pawel beruhigte mich, das wäre alles kein Problem, die Burg darf seit ein paar Monaten wieder frei besucht werden. Die Posten an der Sperre schauten auch nur kurz in den Bus, der Stop kam mehr von den PKW vor uns zustande. Auf einem großen Besucherparkplatz verließen wir den Bus und liefen den Berg hinauf in die Burganlage. Die thronte sehr beeindruckend oberhalb der Donau auf einem Bergrücken. Das trug zu einem sehenswerten Gesamtbild bei. Ein wenig innerer Spannung lastete allerdings die ganze Zeit auf meinen Schultern.
Pawel war jedenfalls stolz auf seine Führung und begleitete mich noch den ganzen Tag. Da ich kein Quartier in Bratislava hatte, nahm er mich abends kurzerhand mit nach Hause. Dazu mußten wir allerdings noch bis Pezinok fahren. Dort hatte er eine kleine Einraum- Wohnung. Ich schlief in der Küche mit Isomatte auf dem Fußboden.
Am nächsten Morgen verabschiedete ich mich von Pawel und bedankte mich herzlich für die vielen Eindrücke und die Gastfreundschaft. Dann begann ich mit meinem „großen Abenteuer“ – ich wollte trampen. Das ging schwerer als gedacht. Eigentlich war geplant, in Bratislava über die Donau zu gehen und von da zum nahen Grenzübergang Rajka, um gleich in Ungarn weiterzutrampen. Doch von Pezinok aus sah es besser aus, noch einige Kilometer weiter in der Slowakei Richtung Osten zu kommen und dann in Komarno oder Sturovo über die Donau zu laufen. Allerdings ging es nur mühsam vorwärts.
Ein oder zwei slowakische PKW nahmen mich ein paar Kilometer weit mit. Dann mal ein Laster. Dann stand ich ewig an einer Fernstraße, wo mir dauernd nur das typische „njääääng“ in den Ohren klang – Trabis auf dem Weg nach Ungarn. Ostdeutsche Kennzeichen, alle bis zum Anschlag vollgepackt mit Campingausrüstung, Verpflegungskonserven (bei begrenztem Umtausch von Forint war es besser, alles Essen für die 2 Urlaubswochen mitzunehmen, dann waren vielleicht ein oder zwei Jeans mehr im Einkaufsbudget drin) und der ganzen Familie.
Ein Arbeitskollege, der in der Freizeit mit seinem Schwiegervater Moskwitsch – Autos überholte, hat mir mal erzählt, wie er vor der Ungarn – Tour an der letzten Tankstelle vor der Grenze Benzin abfüllt. Das Ziel – soviel Sprit wie möglich reinkriegen, um das Tanken mit den knappen Forint zu vermeiden. Der Tank im Moskwitsch ist hinten, die Tanköffnung versteckt unter dem Nummernschild. Natürlich ist auch dieses Auto vollgepackt und hängt mit dem Heck tief herunter. Da der Tank dadurch schräg steht, bildet sich an der Vorderkante eine Luftblase – verschenkter Tankraum! Er fährt also an die Tanksäule und packt den Wagenheber aus. Den setzt er unter die Anhängekupplung und bringt den Wagen damit in eine waagerechte Position. Dann wird bis Anschlag vollgetankt, der Tankdeckel verschlossen. (Der Tankstutzen ist auch noch eine Füllreserve). Nach dem Bezahlen kommt der Wagenheber ab und los gehts.
Als mal wieder einer der slowakischen Skodas anhielt, erreichte ich schließlich Nové Zámky. Das war jetzt kein so berauschendes Ergebnis. Naja, Grenzgebiete sind immer schwierig.
Ich bin erstmal etwas ernüchtert. Eine Entscheidung muß her. Um meine Reise etwas zu beschleunigen, entschließe ich mich, noch weiter mit der Bahn zu fahren. So teuer ist das auch nicht – in den sozialistischen Bruderländern gibt es ein eigenes Tarifsystem SMPS, welches Bahnfahren über die Grenzen hinweg zu einem sehr preisgünstigen Vergnügen macht. Ich kratze also meine tschechoslowakischen Kronen zusammen und bestelle am Bahnhof in Nové Zámky eine Fahrkarte nach Ruse. Das liegt im Norden Bulgariens direkt an der Grenze zu Rumänien. Damit erspare ich mir die Tramperei durch Ungarn, wo DDR- Bürger sowieso oft als zweitklassige Deutsche angesehen werden und durch das riesige Rumänien, wo es nur wenige Autos und viele arme Menschen gibt, die keine weiten Strecken fahren.
Die Frau am Schalter sagt mir, daß sie etwa 1 – 1,5 Stunden braucht, um das Ticket fertig zu machen. Das ist alles Handarbeit. Mit den Fingern in verschiedenen Kursbuchseiten für die notwendigen Bahnstrecken werden die Tarifkilometer rausgesucht und zusammengerechnet. Außerdem einige Zwischenhalte und mögliche Grenzbahnhöfe notiert, damit einigermaßen der Tarifrahmen auf der Fahrkarte erscheint. Und dann werden die Kilometer in den Preis umgerechnet. Mit Durchschlagpapier und Kugelschreiber wird das Fahrscheinformular ausgefüllt. Ein Durchschlag bleibt als Nachweis dann im Schalter. Die Fahrkarte selbst wird in ein rotes SMPS – Umschlagheft aus verstärktem Karton getackert und mit dem amtlichen Schalterstempel gültig gestempelt.
So schlendere ich ein wenig in der Stadt herum. Nové Zámky ist tatsächlich „neu“ – ein historisches Zentrum finde ich nicht, dafür jede Menge realsozialistische Plattenbauten und andere moderne Gebäude. Nicht gerade nach meinem Geschmack. Auch das Empfangsgebäude vom Bahnhof ist eher ein großer nüchterner Zweckbau. Auf dem Vorplatz finden sich ein paar Rabatten und eine Springbrunnen – Anlage, alles schön rechtwinklig. Aber das Wasser sorgt für etwas Frische in der Sommerhitze.
Am späten Nachmittag fährt noch ein Zug über Budapest. Mit meinem Fahrschein kann ich jetzt also etwas „beschleunigt“ weiterreisen. Eine kleine Idee treibt mich sowieso voran – in der nächsten Woche startet eine Gruppe einer befreundeten Jungen Gemeinde zur Bulgarien-Tour nach Sofia. Über den Daumen gepeilt, könnte ich es schaffen und die Jungs und vor allem Mädels am Zug in Sofia abfangen. Die danach geplante Bergwanderung im bulgarischen Pirin Gebirge könnten wir dann gemeinsam unternehmen. Mit Trampen hätte ich das wohl nie geschafft, aber jetzt rückt dieses Treffen wieder in den Bereich des Möglichen.
In Budapest halte ich mich nicht lange auf. Es ist später Abend und wird schon langsam dunkel. Klar könnte ich mir irgendwo ein Plätzchen zum Schlafen suchen, auf der Margareten – Insel vielleicht. Aber warum soll ich in der Stadt bleiben, wenn ich am nächsten Tag sowieso weiter will. Ich besteige einen Vorort- Zug in Richtung Osten und fahre auf’s Land raus. In dem kleinen Ort, in dem ich den Zug verlasse, ist es schon stockfinster. Ein paar Hunde schlagen an, aber ansonsten bleibt alles still. Ich laufe nur ein Stück raus und suche mir ein Gebüsch, hinter dem ich die Nacht verbringe.
Am anderen Morgen gehts gleich weiter, zum Bahnhof und dann nach Szolnok. Ein paar Fotos von „typisch ungarischer Landidylle“ mit Sonnenblumen und Misthaufen, und ab. In Szolnok war ich im Jahr zuvor mit einem Freund, der an der Filmhochschule studieren will und deshalb überall fotografiert, was das Zeug hält. Dort gab es über Ostern ein Tanzfestival, wo auch eine breakdance – Gruppe aus unserer Region teilnehmen wollte. breakdance war im Osten gerade richtig populär geworden, wozu der ab 1985 auch in DDR – Kinos gezeigte US- Film „Beat Street“ beigetragen hat.
Überall entstanden Gruppen und die breakdance – Welle rollte durch den Ostblock. Das Tanzfestival entpuppte sich aber nur zu einem kleinen Teil als breakdance – Veranstaltung. Keine Ahnung, wie oft ich allein an diesem Tag Jacksons „Thriller“ gehört habe. Gefühlt jedes zweite Tanzpaar hatte diese Musik für ihre Show gewählt und mir quoll das gegen Abend schon zu den Ohren raus…
Auf dem Zwischenstop im Sommer ’89 drehte ich allerdings nur ein paar Runden durch Szolnok, saß eine Weile an der Theiß, erinnerte mich noch einmal an den Tanz – Contest im Jahr zuvor und wartete auf den passenden internationalen Zug, der mich weiterbrachte.
Eigentlich führt der direkte Weg von Ungarn nach Bulgarien über Jugoslawien. Doch das gilt in der DDR als „abtrünnig“, da die Tito-Sozialisten ihren eigenen Weg mit etwas Distanz zum sowjetischen Über – Bruder gesucht haben und sich eine leise Öffnung zu den westeuropäischen Kapitalisten erlaubten. So waren die Urlaubsparadiese an der Adria devisenzahlenden Westeuropäern vorbehalten und der Eiserne Vorhang verlief nördlich der Grenze, die Ungarn und Rumänien von der trotzdem Sozialistischen Förderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) trennte.
Für DDR – Bürger bedeutete das auf dem Weg in bulgarische Sommerfreuden den weiten Umweg über das eher ungeliebte und verarmte Rumänien. Dieses Land erschien mir manchmal eher wie eines der südamerikanischen Steppenländer. Zumal im Sommer, wenn über der Puszta die Sonne glühte. Vergleiche kamen mir z.B. mit Bildern aus dem Film „Grünes Eis„, in dem korrupte Polizisten in einem südamerikanischen Land nach geschmuggelten Smaragden jagen – in Union mit einer Mafia des lokalen Edelstein – Barons.
Im Pannonia – Expreß hatte ich einmal erlebt, wie der Zug mittags aus Ungarn in die kleine Grenzstation rollte und dort über eine Stunde in der Sonne stand. (Klimaanlagen gab es nicht, offene Fenster dienten der Lüftung). Die rumänischen Grenzer, die sich viel Zeit bei der Kontrolle ließen, kamen zu DDR – Reisenden immer mit der Frage: „Haben Waffen, Munition, Narkotika..?“ Ganze Abteile wurden auseinandergeschraubt, die Waschräume und Toiletten sowieso. Hunde mußten unter dem Zug und auf dem Dach langlaufen und alle Hohlräume erschnüffeln. So zwischendurch versammelte sich die Wachmannschaft erstmal neben dem Zug zum Appell, um den neuesten Tagesbefehl zu empfangen. Wir saßen im heißen Zug, warteten auf die Weiterfahrt, die Grillen zirpen… Mit dem blauen Perso des DDR- Bürgers war das alles eher amüsant, da wir offensichtlich als harmlos durchgingen und weitgehend unbehelligt blieben.
Der Zug, den ich in den späten Abendstunden in Szolnok bestieg, kam aber aus Polen und deshalb weitgehend mit Polen besetzt. Als wir mitten in der Nacht die rumänische Grenze erreichten, war das nicht mehr so lustig. Ich stand zwar wie immer mit meinem blauen Büchlein mittendrin und wurde kaum angeschaut, jedoch bei den Polen wurde sämtliches Gepäck kontrolliert. Und das alles in rüdem Ton und mit einigem Geschubse und Gebrülle.
Da die Polen in den letzten zwanzig Jahren mit einer korrupten Regierung und enormer Verarmung zu tun hatten, haben sie ein gutes Gespür dafür entwickelt, womit vielleicht kleine Geschäfte machbar sind. Keine Riesengewinne, einfach nur Möglichkeiten, um den Alltag etwas erträglicher zu machen oder wie in diesem Falle hier, einen Urlaub wenigstens einigermaßen finanzieren zu können. Und so hatten die Polen eine ganze Menge Gewürz – Abpackungen dabei, die sie in Rumänien unter der Hand verkaufen wollten. Jedenfalls deutlich mehr als den persönlichen Bedarf. Leider war es dann so, daß der Rumänische Zoll den Gewinn eher schon im Vorraus abgeschöpft hat. Was nicht ohne Tränen, Entrüstung und Wut abging.
Am anderen Morgen war die Trübsal verflogen. Die Polen, die immer sehr gesellig und gastfreundlich sind, luden mich glatt mit zum gemeinsamen Frühstück ein und wir verbrachten eine gute Zeit miteinander.
Die meisten DDR – Bürger sind durch Rumänien eher schnellstmöglich durchgefahren. Trotz wunderbarer Landschaften war die Armut überall greifbar. Wenn die bunten Expreßzüge aus fernen Ländern in die Bahnhöfe einfuhren, kamen von überall her die Menschen angerannt, um zu betteln. Verdreckte Kinder in abgerissenen Hemden und ausgetretenen Schuhen riefen „Guma, Guma!“ für Kaugummis oder Bonbons. Die Züge kamen den Leuten hier sicher wie Boten des Wohlstands vor. Manche Konservenbüchse wechselte den Besitzer, manches Stück Seife ließ die Augen glänzen. Es kam aber gelegentlich vor, daß Kinder Schottersteine in die Fenster warfen, wenn ihr Betteln auf taube Ohren stieß.
Zwei Täler sind mir von Rumänien noch eindrücklich in Erinnerung. Wenn der Zug in das eine Tal einfuhr, veränderten sich die Bilder vor den Fenstern. Alles war schwarz – der Mais auf den Feldern, die Blätter an den Bäumen, die Häuser, die Straßen und Autos, die Menschen auf den Bahnsteigen, ja teilweise sogar die Wäsche auf der Leine. Der Ort in dem die Züge hielten, hieß Blaj. Das hörte sich für mich schon an wie Blei. Und dann fuhr der Zug im Schrittempo an einer Fabrik vorbei – ein riesiger schwarzer Wellblechkasten, durch die winzigen Fenster konnte man nur trübe Funzeln sehen, die die Werkhallen erleuchteten. Und darüber ragten Schornsteine, aus denen eine einzige endlose schwarze Rauchsäule aufstieg. Erst wenn der Zug das Tal verließ, wurden die Farben wieder freundlicher.
Woanders gab es ein weiteres Tal, nur daß hier alles weiß eingestaubt war. Der Anblick war etwas angenehmer, aber ob dieser Staub wirklich soviel besser war als der schwarze von Blaj, kann ich nicht beurteilen.
Trotzdem gab es einige, vor allem Jugendliche, die auch in Rumänien ihre Sommerziele fanden. Das Fagaras – Gebirge stand immer hoch im Kurs, trotz nicht ungefährlich klingender Geschichten von verwilderten Hunden, die sich dort in großen Rudeln rumtrieben. Oder auch das Donau- Delta, ein Eldorado für Wasserwanderer. Ich wollte im Sommer ’89 wenigstens mal die siebenbürgische Stadt Braśov – Kronstadt kennenlernen. Durchgefahren bin ich ja schon mehrfach.
Deshalb verließ ich dort den Zug. Der Bahnhofs – Vorplatz erschreckte mich. Überall lag Müll herum, überall Sch… -haufen. Eine funktionierende Bahnhofstoilette scheint es nicht zu geben. Eigentlich wollte ich mich erstmal irgendwo hinsetzen, um etwas zu essen, aber das verging mir bei diesem Anblick sofort. Sehr einladend sah das Umfeld auch sonst nicht aus – Plattenbau – Hochhäuser, eine O-Bus-Linie, Straßen mit einigen stinkenden Autos und wenigen Pferdefuhrwerken. Aber nichts, was mir jetzt gefallen hätte. Ein Kino- Schaukasten mit Plakat für einen Rocky – Film. Darin unterschieden sich die sozialistischen Länder immer ein Stück. Was in einigen Ländern im Kino gezeigt wurde, war in anderen verpönt bis verboten.
Ich war schon drauf und dran, auf dem Bahnhof nach dem nächsten Zug zu gucken. Brasov liegt am Nordrand der Karpaten, ab hier geht es auch mit der Bahn steil bergauf bis zum Bahnhof Sinaia, der so ein Edel – Erholungort in den Bergen ist. Danach kommt der Karpaten – Durchbruch am Predeal – Paß und dann geht es südlich wieder steil bergab bis Bukarest. Das heißt, der Karpatendurchbruch bildet eine Art Trichter, durch den praktisch alle internationalen Züge nach Bulgarien durch müssen. Insofern besteht mehrmals am Tag die Chance, hier schnell wieder wegzukommen.
Na gut, meine Abfahrt sollte also kein Problem sein. Doch ich erinnere mich daran, von einigen gehört zu haben, das Kronstadt auf jeden Fall einen Besuch wert sei. Diese seelenlose Plattenbauwüste vor dem Bahnhof kann damit ja nicht gemeint sein.
Und so wage ich einen zweiten Anlauf. Zuerst versuche ich mich zu orientieren. Überhaupt rauskriegen, in welcher Richtung das Stadtzentrum liegt. Wenn kein Stadtplan vorhanden ist, versuche ich das anhand der Anzeigen an Bussen, Fahrplänen oder was sonst noch helfen kann. Als ich eine Vermutung habe, laufe ich los. Und in der Tat, die Szenerie verändert sich. Ich erreiche einige Straßenzüge mit sehenswerten Altstadthäusern. Zwar ist auch hier vieles verdreckt und etwas heruntergekommen, doch insgesamt bessert sich das Bild.
Die Straßen sind nun weitestgehend aufgeräumt und die Häuser haben ihren Charme. Zwischen den Häusern sind große Tore, dahinter liegen begrünte Höfe mit Weinspalieren an den Wänden. Die Autos, die hier rumfahren, sind zwar meist altersschwach und klapperig, aber nicht sehr zahlreich. Um den Markt herum entdecke ich sogar einige frisch renovierte Häuser, der Platz ist mit Natursteinplatten belegt und ganz ansprechend gestaltet. Auf Bänken und neben den Blumenrabatten sitzen Familien, alte und junge Leute. Die meisten sehen einfach aber ordentlich gekleidet aus, nicht so wie im Bahnhofsumfeld. Alte Frauen tragen Kopftücher, die älteren Herren sind in weiße Hemden und mit Sakkos unterwegs. Neben dem Rathaus befindet sich ein Brunnen mit einem schmiedeeisernen Ziergitter.
Hinter dem Markt erhebt sich an einer Marktecke eine große Kirche – die „Schwarze Kirche“ von Kronstadt. Als ich mich dem Kirchenbau nähere, höre ich von drinnen Orgelmusik. Wie um mich zu begrüßen! Schnell suche ich den nächsten Zugang und lasse mich im Kirchenschiff auf einer der Bänke nieder. Einer der Organisten hat seine Übungsstunde genau auf die richtige Zeit gelegt, und ich genieße das. Ein erhabenes Gefühl kommt auf – ich allein unterwegs, mitten in Rumänien, und jetzt darf ich den Klang dieser schönen Buchholz – Orgel von Kronstadt erleben.
Die Schwarze Kirche von Kronstadt ist ein deutscher Kirchenbau der Siebenbürger Sachsen, der etwa 1477 vollendet wurde. Bei einem großen Stadtbrand 1689 brannte auch die Kirche weitgehend aus, nur die Umfassungsmauern standen noch. Aufgrund der Schwärzung wurde sie ab da „Schwarze Kirche“ genannt.
Als der Organist seine Exerzitien beendet hat, verlasse ich die Schwarze Kirche und streiche durch die Straßen um den Markt herum. Es ist bereits Mittag und ein Hungergefühl macht sich bemerkbar. Da muß ich mal schauen, was sich so finden läßt. Ein paar relativ volle Restaurants habe ich schon gesehen. Vielleicht gibt’s da für mich noch ein Plätzchen und auch was schönes zu Essen. Naja, so eine Art Teigtaschen, das geht.
Im Jahr 1989 bin ich gerade in einer „Konversionsphase“, was das Essen angeht. Ich habe mir vorgenommen, Vegetarier zu werden. Aber nicht einfach so – heute das letzte Mal Fleisch und ab morgen nur noch Gemüse. Das ist im Realsozialismus etwas schwierig. Grotesk oder? Leider ist für manche Mitbürger die Verfügbarkeit üppiger Fleischmahlzeiten das Maß der gesellschaftlichen Verfassung. Wenn über was gemeckert wird, ist es vor allem, daß es im Fleischerladen wieder nur fettige Koteletts gab und keine feinen Filets… Um diesem wachsenden Bedarf zu befriedigen, sicher aber auch, weil sich viel Schweinefleisch für harte Devisen gut in den Westen verhökern läßt, sind in der DDR immer größere Schweinefabriken entstanden. Seelenlose Massentierhaltung. Mit stinkenden Konsequenzen. Denn die Güllemenge wird immer größer und läßt sich längst nicht mehr sinnvoll auf Feldern ausbringen. Die größten Schweinemastanlagen pumpen deshalb einen Großteil ihrer Gülle einfach in den Wald – und sorgen so für ihr eigenes lokales Waldsterben.
In kirchlichen Kreisen, in den neu entstehenden Umweltgruppen und auf Kirchentagen diskutieren wir diese Themen immer häufiger. Für mich war die Konsequenz damals schon, weniger Fleisch zu essen. Und da ich ein Stück auch Vorbild sein wollte – einfach nach und nach ganz zu verzichten. Dazu wollte ich aber lernen, vegetarische Gerichte zu kochen und mit wohlschmeckenden variantenreichen Mahlzeiten eine Alternative zum Fleischtopf – Einerlei zu schaffen. Also – Verzicht als Bereicherung erleben! Deshalb auch mein Abschied auf Raten. Naja, und vorläufig noch als Kompromiß, weil die Gastronomie unterwegs selten vernünftige fleischlose Alternativen im Angebot hat.
Nun sitze ich im Kreise der zahlreichen rumänischen Gäste und bald kommen die ersten Fragen. Ich falle ja auf – erstens deutlich anders gekleidet, dann mit meinen langen Haaren, und außerdem habe ich Kraxe und Kamera immer bei mir. Für die Rumänen ist das eine seltene Gelegenheit. Das Land ist unter Ceaucescu noch viel mehr abgeschottet wie die DDR. Die Rumänen dürfen kaum ihr Land verlassen und nur wenige haben genügend Geld dazu. Es ist ihnen auch verboten, Ausländer im eigenen Haus zu beherbergen – selbst die „sozialistischen Brüder“ nicht. So nehmen sie jede Gelegenheit war, sich mit Ausländern zu unterhalten und mal ein paar unzensierte Informationen aus erster Hand zu bekommen.
Kronstadt liegt in Siebenbürgen. Das ist Siedlungsgebiet der Siebenbürger Sachsen. Diese haben sich vor Jahrhunderten hier angesiedelt und ganz stark die Kultur der Region geprägt. Isoliert von Deutschland hat sich ihre Deutsche Sprache ein wenig verselbständigt weiterentwickelt. In den achtziger Jahren drängt die sozialistische Regierung unter Ceaucescu aber immer stärker gerade diese Volksgruppe aus ihrer alten Kultur. Ganze Dörfer werden zerstört, die Dorfgemeinschaften aufgelöst und die Menschen in Plattenbauten umgesiedelt. Die kulturellen Traditionen werden unterdrückt, Sprache, Feste, Bräuche sind mehr oder weniger geächtet. Die Schwarze Kirche ist im Grunde eine deutsche Kirche. Sie wird zwar als Kulturdenkmal toleriert, aber das Gemeindeleben leidet unter den Umsiedlungen und der generellen staatlichen Repression gegenüber Kirchen und religiösen Gemeinschaften.
Unter den Gästen ist noch ein Ausländer. Ich lerne Ottar kennen, einen jungen Norweger, der wie ich hier unterwegs ist und Rumänien und den Ostblock erkunden will. Das ist nun auch für mich eine Überraschung. Da geht es mir ähnlich wie den Rumänen. Wir verbringen noch ein paar Stunden gemeinsam in Brasov, bis Ottar am Abend zu seinem Zug aufbricht.
Gegen Abend treffe ich auch auf ein paar weitere ostdeutsche Reisende. Von ihnen erfahre ich, daß sie später oberhalb der Stadtmauer zelten wollen. Da ich noch keinen richtigen Plan habe, wo ich die Nacht verbringen will, lasse ich mir den Weg dorthin beschreiben. Ich bin reichlich müde, zumal ich die letzte Nacht im Zug verbracht habe und die aufregende Geschichte mit dem rumänischen Zoll lange für Schlaflosigkeit gesorgt hat. Also schlendere ich durch die Straßen in Richtung der alten Stadtmauer. Die letzten Meter sind parkähnlich gestaltet. Ein ansteigender Weg führt aus der Stadt hinaus und vermutlich weiter in die Berge. Aber soweit will ich heute gar nicht. Rechterhand fällt eine Böschung ab, dann schließt sich ein Stück Wiese an und auf der anderen Seite stehen die Reste einer alten Stadtmauer. Dahinter ist die Altstadt, die Schwarze Kirche ragt in nicht allzu weiter Entfernung über die Mauerkrone. Trotz der Nähe zur Stadt ist hier keine Menschenseele unterwegs.
Zuerst lasse ich mich auf der Böschung nieder und sitze noch eine Weile. Die vielen neuen Eindrücke muß ich erstmal verarbeiten. Als mich dann die Müdigkeit überkommt, rolle ich meine Isomatte und meinen Schlafsack aus und lege mich einfach an den Rand der Wiese.
Am nächsten Morgen erwache ich ziemlich zeitig. Neben mir steht ein Zelt. Die anderen DDR-Touris haben es in der Nacht aufgebaut, ich habe nichts davon gemerkt. Wenn ich mir die Geschichten anhöre, die in der DDR über Rumänien erzählt werden, danach könnte ich sicher sein, daß ich hier ausgeraubt werde. Die Nacht wäre die beste Gelegenheit dazu gewesen. Aber seit ich vom Bahnhof weg bin, hatte ich kein einziges Mal ein schlechtes Gefühl in dieser Richtung. Alle, die ich seitdem getroffen habe, waren freundlich, neugierig und hilfsbereit.
Heute geht es nun weiter nach Bulgarien. Ich hatte mir in etwa die Züge gemerkt, mit denen ich weiterfahren könnte. Also mache ich mich nach dem Frühstück und ein paar morgendlichen Runden durch die alte siebenbürger Kronstadt auf zum Bahnhof.
Dort treffe ich noch auf eine ostdeutsche Familie. Ein relativ junges Paar mit einem Sohn von 10 oder zwölf Jahren. Wir belegen gleich zusammen ein Abteil in den einfahrenden Fernzug. In Rumänien gibt es dabei ein Problem. Alle Expreßzüge sind reservierungspflichtig. Aber keiner von uns hat eine Reservierung. Das Abteil ist auch leer, doch das spielt keine Rolle. Ich stelle mich schon darauf ein, daß es irgendwie Ärger geben wird. Als der Schaffner kommt, macht mir die Frau allerdings deutlich, daß ich mir keine Sorgen machen soll. Sie wird das für uns alle regeln. So geschieht es dann. Natürlich will sich der Schaffner erstmal aufblasen und wichtig machen und hier einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Beförderungsregeln der rumänischen Staatsbahn ahnden. Aber die sehr vitale Frau nimmt ihn gleich in Beschlag, bezirzt den armen Kerl nach allen Regeln der Kunst, steckt ihm auch noch ein kleines Päckchen Kaffee in die Tasche der Uniformjacke, und damit ist das Problem tatsächlich aus der Welt…
Von Brasov aus geht es immer weiter bergauf. Der lange Zug windet sich in Serpentinen in die Höhen der Karpaten. Aus Seitentälern kommen Sturzbäche und vereinigen sich mit dem Flußlauf neben den Bahnanlagen. Fast am höchsten Punkt angelangt, hält der Zug in Sinaia. Hier gibt es keine bettelnden Kinder auf den Bahnsteigen. Vom Zug aus sind eine freundlich gestaltete Parkanlage und Kurhotel – ähnliche Gästehäuser zu sehen. Rings ragen hohe Berggipfel in den blauen Himmel. Wintersportanlagen ducken sich an die Hänge, eine Ski-Schanze erhebt sich über den Bergwäldern. Die wenigen Menschen, die Ein – und Aussteigen, sind gut gekleidet und tragen große Koffer mit sich rum.
Nach der Abfahrt steigt die Bahnstrecke noch mehr an. Hohe Felsen türmen sich neben dem Paßweg. Das ist der Karpaten – Durchbruch. Anschließend geht es auf der Südseite in vielen Serpentinen bergab. Hier muß der Zug ständig gebremst werden. Es riecht nach den glühenden Bremsklötzen, die bunte Waggonschlange windet sich wieder und wieder um Kurven. Mal direkt neben einem rauschenden Bergbach, mal weiter weg über breiter werdende Talwiesen.
Als der Zug Ploiesti erreicht, werden erstmal die Bremsen kontrolliert. Bahnarbeiter laufen auf beiden Seiten an den Wagen entlang, einen langstieligen Hammer in der Hand, auf dem noch einige große Unterlegscheiben aufgesteckt sind. Mit dem Hammer schlagen sie gegen die Bremsvorrichtungen und kontrollieren das Spiel. Mehrere der Bremsklötze werden gleich ausgetauscht. Das geschieht bei jedem Zug, bevor er durch die Karpaten rollt und danach. Zwischen den Gleisen liegen ganze Stapel von Bremsklötzen, neue und auch komplett abgeschliffene.
Gegen Abend erreichen wir Bukarest. Es ist bereits dunkel. Auch auf diesem Bahnhof ist die Armut spürbar. Vor allem, weil die Beleuchtung nur sehr trübe die Bahnsteige erhellt. Gegenüber allen anderen Bahnhöfen, die ich in anderen Ländern bereits passiert habe, ist der in Bukarest der dunkelste. Einfache Personenzüge stehen sogar ganz im Dunkeln, ohne Licht. Die Batterien fehlen in den Waggons. Licht gibt es nur, wenn der Zug fährt und die Achsengeneratoren Strom erzeugen.
Vom „sao general“ Nicolae Ceaucescu, dem großen Führer des sozialistischen Rumäniens, hören wir immer wieder Schauergeschichten. (Für große rote Propaganda – Banner ist offenbar genug Geld da – und dort wird immer dem „sao general“ gehuldigt – wir lesen da nur „sau-general“) So wird in Bukarest ein ganzes Stadtviertel leergeräumt und gesprengt, um Platz für den riesigen Palast des kleinen Diktators zu schaffen. Die deutschstämmigen Siebenbürger Sachsen und die Banater Schwaben versuchen seit Jahren, das Land zu verlassen. Daß Ceaucescu bereits knapp fünf Monate später, im Dezember 1989 von seinem Volk aus dem Amt gejagt und, durch ein Schnellgericht verurteilt, erschossen wird, hat zu der Zeit noch niemand geahnt.
Doch nun ist die Durchfahrt durch Rumänien fast geschafft. Bukarest liegt bereits in der großen Donau – Ebene. Der Strom bildet die Grenze zwischen Rumänien und Bulgarien. Hier ist er schon riesig breit- Sonst nur die sächsische Elbe gewohnt, ist das mal ein Strom von ganz anderen Dimensionen. Bestimmt viermal breiter wie die Elbe. Allerdings ist es diesmal bereits finster, als der Zug nun über die „Brücke der Freundschaft“ die Donau überquert. Diese ist eine alte Eisengitter – Brücke, und zwar doppelstöckig. Eine Etage für die Eisenbahn, die andere für die Straßenverbindung. Das ist fast die einzige Passage zwischen Rumänien und Bulgarien. Weit im Westen gibt es noch eine Fähre, von Calafat nach Vidin. Und irgendwo weiter im Osten eine zweite Brücke. Aber die ist mehr für Touristen interessant, die ans Schwarze Meer wollen.
Gleich nach der Brücke kommt der bulgarische Grenz – Bahnhof Русе (Ruse). Mein Ziel dieser Zugfahrt, mein Fahrschein aus Nové Zámky endet hier. Morgen werde ich ab hier durch Bulgarien trampen. Ich bin da sehr optimistisch. In den Jahren zuvor bin ich schon in Bulgarien getrampt. Und das ging immer bestens. Doch jetzt muß ich erstmal durch die Grenzkontrolle. In Bulgarien war das nie ein Problem – kurzer Blick in den Ausweis, ein Stempel auf die „Reiseanlage“, fertig. Die bulgarischen Kontrolleure sehen auch recht harmlos aus – weißes Hemd, kaum als Uniform zu erkennen, Ärmel aufgekrempelt, freundlich und fast schon unscheinbar – eher wie ein Steward auf dem Traumschiff 😉
Dann betrete ich die Bahnhofshalle von Ruse. Da es etwa 1 Uhr in der Nacht ist, suche ich den Wartesaal auf. Der ist ziemlich voll, aber ich finde einen Platz gegenüber der Eingangstür. Dort lasse ich mich nieder, ich werde wie viele andere hier auf dem Fußboden schlafen. Und morgen geht’s dann los, quer durch Bulgarien nach Sofia.
- Ende erster Teil, die Fortsetzung findest Du hier 🙂